Interview mit Regisseurin Clara Bellar – Being and Becoming – Der Schulfrei-Film

Der Film „Being and Becoming“ („Etre et Devenir“) porträtiert freilernende Kinder und Familien in verschiedenen Ländern, darunter zwei aus Deutschland, und fragt ganz offen „was wäre, wenn wir uns entscheiden würden, unsere Kinder nicht zur Schule zu schicken ? Ausserdem kommen Autoren zu Wort und Menschen, die sich beruflich mit dem Freilernen näher auseinander gesetzt haben.

Der Film läuft inzwischen in vielen Ländern der Welt und Du kannst ihn nach wie vor auch in das Kino in Deiner Stadt holen. In Deutschland läuft er seit Ende November, derzeitige Sendetermine und – orte findest Du unter  http://www.etreetdevenir.com/EED.de.html#Sortie

Nach unseren Gesprächen rund um die UK-Premiere von „Being and Becoming“ im Sommer traf ich die Regisseurin und Protagonistin des Films, Clara Bellar, vor der Deutschlandpremiere via Skype zum Interview.

Clara berichtet  in unserem einstündigen Gespräch über die Reisen zu den Aufführungsorten und das Arbeiten mit ihren beiden Kindern, 1 und 6 Jahre, über ihr Verständnis von Unschooling und Lernorten und ihre Vermutungen, was oft so massive Gegenreaktionen auf den Film auslöst.

Vielen Dank an Clara für das offene Gespräch!

 

WIE MACHT IHR DAS MIT DER KINDERBETREUUNG, WENN IHR REIST?

 

FLB: Clara, Du hast selbst zwei Kinder. Wie alt sind sie und wie löst Ihr das, wenn Du mit dem Film unterwegs bist ?

CB: Sie sind eins und sechs; ich habe sie bei den Vorführungen oft dabei. Erst alleine, das hat nicht so gut funktioniert, dann mit meinem Mann. Wenn möglich, übernachten wir bei Bekannten, wo es auch Kinder gibt. Mein Mann arbeitet mindestens bis 4 Uhr nachmittags am Computer, egal wo wir sind.

 

WARUM GIBT ES NACH FAST JEDER VORFÜHRUNG EINE FRAGERUNDE ? WAS PASSIERT DORT? / WIE SIND DIE REAKTIONEN AUF DEN FILM?

Teilweise besuchen Menschen das Kino, weil sie in der Zeitung ihres Biosupermarktes eine Notiz über den Film gelesen haben. Er löst starke Reaktionen aus, da ist es wichtig, dass die Leute ihre Fragen stellen können. Die Fragerunden dauern meist 1 ½ Std., und teilweise stehen die Menschen danach noch vor der Kasse, auf der Straße und sprechen stundenlang darüber. Es passiert etwas in den Köpfen. Manche weinen, kommen dreimal um den Film zu sehen, manche bringen dann ihren Partner oder ihre Kinder, die zur Schule gehen, mit. Das Kind sagt dann beispielsweise „Jetzt, wo ich weiß, daß ich eine Wahl habe, erscheint mir Schule viel besser.“ Er bewegt so viel. Es gibt Erwachsene, die geben ihren Job auf, weil sie realisiert haben, dass sie ihn nicht lieben – und sie sehen ihre Kinder, die das tun, was sie lieben, und sagen sich „Hey, das ist nicht fair. Vielleicht kann ich auch das tun, was ich wirklich will!“ – und dann verändern sie ihre Arbeit. Vielleicht lernen sie einen neuen Beruf und sagen sich „Vielleicht ist es nicht zu spät und vielleicht bin ich doch passend, auch wenn man mir in der Schule immer etwas anderes gesagt hat !“.

FLB: Du meinst, Unschooling macht nicht nur für das Kind einen Unterschied, sondern für die ganze Familie?

Clara: Genau. Das bringt mich oft zum Weinen. Da war zum Beispiel diese Frau, ihr Chef mobbte/“bosste“ sie, und sie gab den Job auf, nachdem sie den Film gesehen hatte. Sie schrieb mir anonym und sagte, der Film habe eine grosse Veränderung in ihrem Leben ausgelöst, sie hätte dadurch verstanden, dass sie tun kann, was sie wirklich möchte. Sie hatte bereits in der Schule Erniedrigungen erlebt und hatte sich das von ihrem Chef ebenfalls lange gefallen lassen. Für sie war der Film ein Puzzlestück dabei, dass sie der Herr über ihr Leben ist, dass sie sich nicht mehr täglich schlecht behandeln lassen muss, so schrieb sie.

FLB: Deutschland hat ja tatsächlich eine Schulpflicht. Aber du meinst, beispielsweise die Franzosen wissen gar nicht, daß ein Leben ohne Schule legal ist?

Clara: Ja, es ist erstaunlich. Sie wissen es tatsächlich nicht. Das Land der Freiheit, weißt Du, Wahlfreiheit und all das. Es scheint mir verrückt. Niemand weiss, das es immer erlaubt war in Frankreich, dass es legal ist, nicht zur Schule zu gehen. In Italien ist das wohl noch stärker der Fall, denn in Frankreich gab es immerhin schon einige Artikel in der Presse: es gibt eine kleine Vereinigung, die sich für die Lernfreiheit einsetzt; sie sagten mir, in Italien ist es wirklich völlig unbekannt, dass Lernen zuhause legal ist. (Anm. FLB: in Deutschland nicht, allerdings gibt es auch hier Menschen, die Lösungen suchen und teilweise auch finden). Nach einer Vorführung sprach mich ein Mann an, er war Polizist; er sagte „Ok gut, das klingt sehr interessant, aber wie geht Ihr mit der rechtlichen Situation um, denn es ist in Frankreich illegal, nicht zur Schule zu gehen.“ Ich sagte ihm, nein, es ist legal, der Film sagt die Wahrheit, Du kannst das überprüfen. Das ist so eine gewaltige Offenbarung für viele. Und das kann sehr sehr schmerzhaft sein, zu erkennen, wir hätten das nicht mitmachen müssen, es wäre vermeidbar gewesen. Das macht manche Menschen sehr aggressiv, und ihre Aggressivität richtet sich teilweise dann gegen mich, denn ich bin die, die die Botschaft überbringt in dem Moment. Jemand aus dem Publikum verglich das sogar einmal mit dem Stockholm Syndrom (Anm.FLB: http://de.wikipedia.org/wiki/Stockholm-Syndrom)  . Ich bekomme teilweise wirklich sehr wütende Reaktionen.

FLB: Ok, und wie gehst Du damit um?

Clara: Das erste, was ich gelernt habe, ist, dass eine gute Vorbereitung allein nicht ausreicht, sondern dass ich einfach nicht alleine vor dem Publikum stehen kann. Eine Psychologin, die auch als Körpererfahrungs-Coach arbeitet, kam zu mir und riet mir, einen Partner körperlich sehr nah bei mir zu haben auf der Bühne, der die Hälfte der Gewalt absorbieren kann, die mir da entgegen schlägt. Es klingt so hart, denn es ist ja wirklich sehr selten – die meisten Reaktionen sind anders: Leute weinen, die Menschen sind dankbar, voller Freude und Enthusiasmus. Doch wenn da nur eine Person ist, die wirklich voller Gewalt steckt, das ist so eine starke Kraft. Weißt Du, obwohl es ja an sich keine körperliche Gewalt ist, wird es dazu, es fühlt sich für mich körperlich an, weil es wie Feuer in ihren Augen ist, und das ist mehr, als Worte ausdrücken können, es ist die Emotion und die Energie; manchmal so sehr, dass ich zittern muß. Aber ich habe festgestellt, dass der Rat der Psychologin mir hilft –wenn ich jemanden nahe bei mir habe, ist es nicht das Gleiche. Es ist jemand da, der sprechen kann, während ich Luft hole. Außerdem komme ich mir manchmal vor wie ein Papagei, der immer die gleichen Dinge wiederholt. In Frankreich hatte ich einmal eine junge Mutter von vier Kindern dabei, die selbst als Unschooler aufgewachsen ist und mit mir zu drei Vorführungen mitging. Das war großartig, weil sie ihre eigene Sicht und Erfahrung mit einbringen konnte. Was ich auch noch festgestellt habe, das kann aber vielleicht auch Zufall sein, wenn ich meine Tochter bei so einer Fragerunde dabeihabe, mit Baby in der Tragehilfe oder auf meinem Arm, ist weniger Gewalt im Raum. Klar, häufig will sie auch einfach draußen sein, oder bei meinem Mann oder meiner Mutter, und insgesamt ist es natürlich so, das ich schauen muss, wie alles klappt, aber sie ist halt öfter auch bei mir bei den Fragerunden, wenn sie stillen möchte.

Manchmal ist es wirklich schwierig, so kam z.B. einmal eine Frau zu mir, die sehr gewaltvoll war, sie war so voller Wut und rief, „Was ist mit den Bedürfnissen der Anderen? So eine selbstsüchtige Wahl – Sie treffen diese Wahl für Ihre Kinder, aber was ist mit all den anderen Kindern, die zur Schule gehen müssen!!“ Sie war so aufgebracht. Was ich in solchen Fällen tue, ist es selbst zu reflektieren und solche Fragen auf einer entsprechenden Yahooliste mit 300-500 Familien aus Paris und Umgebung, von denen ich auch viele persönlich kenne, um Antworten zu fragen, außerdem bei einer französischen Freilernervereinigung, damit ich noch mehr Antworten bekomme. Manche sagen beispielsweise manche ganz wütend, was ist mit den Kindern in anderen Ländern wie z.B. in Afrika, für die ist es doch ein Segen in die Schule zu gehen! Puh, das ist ein sehr kolonialistischer Blick. Wir gucken auf Afrika á la „wir müssen sie retten“ und merken gar nicht, wie arrogant das ist. Da gibt es so eine Dokumentation, „Schooling the world“, kennst Du die?

FLB: Ja.

Clara: Das ist problematisch; wir sagen unsere Kultur, unser role model der Erziehung ist das Richtige, und Ihr müsst alle dasitzen mit der Tafel und mitschreiben und es genauso machen wie wir, weil das der richtige Weg ist.

OFT HEISST ES VON KRITIKERN DES UNSCHOOLINGS, SCHULE WÄRE FÜR DIE KINDER NOTWENDIG  ZUR SOZIALISATION.

FLB: Wie gehst Du mit diesen Zweifeln um, die Leute haben, die sagen, Kinder brauchen Schule etc zur Sozialisation; wenn sie nicht zur Schule gehen, behälst Du sie zu nah bei Dir, und Homeschooling oder Unschooling ist nur für sehr oder extrem religiöse Menschen?

Clara: Hm, sie sind ja nicht nur mit ihren Familien zusammen den ganzen Tag, sondern auch mit anderen. Sagen wir, ein Vater geht zur Arbeit vier Tage in der Woche und die Mutter drei Tage in der Woche, dann gibt es ein bis zwei Tage in der Woche in denen ihr Kind viel Zeit in einer anderen Familie verbringt. Die andere Seite ist, wenn Du Dein Kind zur Schule schickst, wenn sie noch sehr klein sind, haben sie nur einen Lehrer, jeden Tag, das ganze Jahr, und normalerweise –speziell in den öffentlichen Schulen- suchen Eltern diesen Lehrer nicht aus und kennen ihn nicht, er teilt vielleicht nicht ihre Werte, aber das Kind verbringt mehr wache Stunden mit dieser Person als mit seinen Eltern, und bindet sich an sie, sodass er zwangsläufig einen hohen Einfluss auf die Wertebildung des Kindes hat, vielleicht mehr als die Eltern? So wenn wir uns Gedanken machen über den Einfluss eines Erwachsenen auf das Kind, natürlich, beim Unschooling arbeiten wir ja an uns, um sowenig Erwartungen wie möglich zu haben und unserem Kind soviel Freiheit wie möglich zu lassen, aber natürlich beeinflussen wir unser Kind irgendwie und unsere Werte sind irgendwie spürbar. Aber, ist es besser das jemand den Du nicht einmal kennst, einen so maßgeblichen Einfluss im Leben deines Kindes hat zu einer Zeit, wenn sie alles aufsaugen wie die Schwämme und ihre Basis für ihr weiteres Leben bilden? Das ist die Frage. Das wäre eins meiner Hauptanliegen, wie diese Person ist, mit der mein Kind mehr wache Stunden verbringt als mit Familienmitgliedern oder Freunden. Und doch denken glaube ich viele gar nicht wirklich darüber nach.

FLB: In Deutschland ist das ein Argument der Kritiker von Bildung ohne Schule, dass es eben wichtig sei für die Kinder, andere Werte und andere Mindsets kennenzulernen als das, was ihre Eltern oder Familien denken oder ihnen erzählen.

Clara: OK, was ich da antworte, ist, das diese Kinder in der Welt sind und nicht eingesperrt, sie sind somit der ganzen Bandbreite von A bis Z an Werten, an Kulturen und Hintergründen ausgesetzt. Ich meine, als ich zur Schule ging, das war in einem speziellen Bezirk in Paris, daher war es nur ein bestimmtes „Profil“ – ich meine, um zu einer öffentlichen Schule im 6. Bezirk zu gehen, mußte man im 6. Bezirk wohnen. Und so war es – mein Dad war orthopädischer Chirurg, meine Mom Modedesignerin, meine Freunde waren die Tochter von XY, der Sohn des Ministers usw. Es gab keine anderen Immigranten dort als Portugiesen, weil die Concierges Portugiesen waren. Es gab nur Weiße, keine andere Kultur, und keinen anderen sozialen Background. Das war also sehr wenig, und natürlich waren wir alle auch noch zwischen 1971 und 1972 geboren. Als ich 17 wurde und endlich in der realen Welt ankam, traf ich endlich auf die  französische Gesellschaft und war den französischen Werten, Kulturen und Ethnien ausgesetzt und der echten französischen Welt, sozusagen. Ich sage immer, für mich ist es das Gegenteil zu eingeschlossen in vier Wänden zu sein. Wenn Du eingeschlossen in diesen vier Wänden wie im Klassenzimmer bist, lernst Du nur das kennen, was innerhalb dieser vier Wände ist. Und das muss zwangsläufig limitiert sein, weil es nur ein kleiner Raum ist und ein kleiner Ausschnitt aus der Bevölkerung. Hm, und noch zur Sozialisation, da zitiere ich gern Alan Thomas (Anm. d. Verf.: Psychologieprofessor an der University of London, einer von Claras Interviewpartnern im Film). Er erzählte mir, dass seine eigenen Kinder, Sohn und Tochter, ihre ganze Schulzeit hindurch im konventionellen Schulsystem waren. Er sagte, sie seien einander im Gang in der Schule begegnet, und sie hätten einander nicht Hallo gesagt, weil das etwas war, das man nicht tat, mit jemandem aus einer anderen Altersgruppe sprechen. Und er sagte, zu diesem Zeitpunkt habe er begonnen nachzudenken. Und er dachte nach, denn an der Universität sprachen sie über Sozialisation in der Schule; und er dachte bei sich, dass es wohl die schlechteste Art der Sozialisation sei, die man sich vorstellen könne, nicht mit jemandem zu sprechen weil man unterschiedlichen Altersgruppen angehöre. Ich teile außerdem gern meine Überraschung – und ihm ging es genauso – über Szenerien als wir zusammen zu Home Educator-Treffen der ersten Jahre oder in den Otherwise Club (Anm.: Home Education – Treffpunkt und Lernort in London) gingen. Er sah, was ich sah: Teenager, Jungs, mit einem größeren Baby im Arm, oder mit einem Kleinkind für eine längere Zeit spielend, und wir hatten das niemals zuvor gesehen. Und ich dachte, wow, das sollte natürlich sein so. Vielleicht ist es in eher traditionellen Kulturen selbstverständlicher, aber nicht bei uns, ich hatte das nie zuvor gesehen. Aber ein Teenager interessiert sich doch normalerweise nicht näher für kleine Kinder, dachte ich, und dann realisierte ich, dass es vielleicht etwas ist, das wir in der Schule lernen: separiert zu werden und uns zu separarieren, und nur getrennt zu spielen; nur mit Jungs zu spielen, wenn Du ein Junge bist, weil es nicht cool ist mit Mädchen zu spiele; und ich denke, vielleicht ist das gar nichts, mit dem wir geboren werden, vielleicht ist es etwas, das wir in der Schule lernen.

WIE MÜSSTE SCHULE FÜR DICH SEIN, UM EINE WAHL FÜR DICH DARZUSTELLEN FÜR DICH UND DEINE KINDER?

Clara: Ich vermeide es, öffentlich dahingehend über meine Kinder zu sprechen. Speziell über meinen Sohn, ich möchte, dass er da in Ruhe gelassen wird; ich möchte nicht, das die Leute anfangen, ihn anzusehen und ein „Resultat“ dieser „Technik“ Unschooling in oder an ihm zu sehen. Also sage ich nur, wenn mein Sohn fragt und zur Schule gehen möchte, kann und wird er gehen – bisher hat er nicht gefragt. Vielleicht wird er fragen, wenn er älter ist, vielleicht nicht jetzt, aber vielleicht wenn er 10 oder noch älter ist. Das Schulwesen, puh, jemand sagte mir, in Frankreich werden jährlich 37 Millionen oder Milliarden Euro  – ich bin wirklich schrecklich mies mit Zahlen, jedenfalls eine lächerlich hohe Summe wird ausgegeben, und es verstärkt soziale Ungleichheiten. Am Ende der Schulzeit ist alles noch unfairer als vorher, Gewalt verstärkt sich, Versagen zum Beispiel. Daher glaube ich, das Schulsystem müsste komplett zerstört werden und von Grund auf neu aufgebaut werden. Denn die Leute machen ständig weiter mit Reformen und fügen kleine Steinchen hinzu, aber die Basis ist einfach falsch, und was ist das Ziel ? Ich glaube, das Ziel war etwas, das heute nicht länger notwendig ist; es sollten fleißige Arbeiter und Bürger dabei herauskommen, die genug schreiben können, um eine Steueranmeldung auszufüllen und damit wir Gebrauchsanweisungen lesen können und damit emanzipiert werden.

Es eröffnet demnächst etwas wie eine demokratische Schule, auf die eine Art, ausser die Verhandlungen, bei denen jeder urteilt. Es ist ein Lernort, wie Naomi Aldort (Anm: Autorin und Protagonistin im Film) sagt,  wie eine Bibliothek nur mal 100.  Diese Schule in Frankreich geht von 10 bis 20 Jahren, und Du machst da Deinen eigenen Stundenplan, oder gar keinen Stundenplan. Ich ging zur Eröffnung und dachte, idealerweise sollte das vom Alter 1 bis 100 gehen. Warum sollten wir aufhören, das Recht zum Lernen zu haben, nur weil wir 20 sind? Ich möchte nicht aufhören zu lernen. Ich glaube daran, Plätze wo man hingehen kann und lernen und auch mit 40 J. eine neue Fertigkeit lernen oder ihren Beruf verändern und wo Eltern willkommen sind auch um selbst zu lernen.

FLB: … und wo Kinder mit ihren Eltern oder ohne sie hingehen können.

Clara:  Genau. Weil wir Büchereien haben – und wir könnten mehr haben als nur die Büchereien. Und wir können jemanden fragen der kommt und etwas unterrichtet, das mehrere  Leute zusammen lernen wollen, und sie gründen eine kleine Gruppe. Und man kann Veranstaltungen machen mit anderen, um etwas zu diskutieren, und man hat alle Ressourcen beisammen. Ich habe gerade die Coworking spaces für mich entdeckt; wir hatten auch eine Vorführung in einem Coworking space in Berlin. Und so könnte es Coworking spaces geben und weißt Du was? Jemand sagte, sie sollten nicht von den Kindern getrennt sein, sodass die Eltern im Co-Working-Space sein können und die Kinder im Co-Learning-Space, und alle können zusammen sein.

FLB: Ja, wir bauen so etwas auf und manche versuchen es in verschiedenen Städten. Man hat nur manchmal das Problem, das Eltern sagen, hu, ich würde das gerne machen, ich möchte meinen Kinder freilernen ermöglichen, aber ich muss arbeiten und mein Mann muss arbeiten. Wie können wir damit umgehen? Wenn man selbständig ist, dann kommt es auf den Beruf an, aber oft kann man eine bessere Beteiligung beider Eltern erreichen, aber wenn man nicht selbständig ist, ist es schwierig, oder für manche Tätigkeiten ist es nicht möglich, die Kinder bei sich zu haben. Die Co-Working spaces mit Kindern (Anm.: Rockzipfel, Eltern-/Mütter-Teams und ähnliche Initiativen) versuchen wenigstens einen Teil dieser Lücke zu füllen.

Clara: Aber ich glaube, eine Menge der Menschen in Angestelltenverhältnissen, da sind einige dabei, die ihren Job aufgeben, weil sie nicht mögen was sie tun, und sie finden einen anderen Weg. Oder andere, die mögen, was sie tun, aber sie ziehen sich vielleicht ein bisschen zurück, sprechen mit ihrem Chef, und der sagt vielleicht, oh, einen Teil von dem, was Sie tun, können Sie zuhause machen. Was für den Chef zählt, ist das Du Deinen Job für das Unternehmen machst. Auch wenn Du es um 22 Uhr von zuhause machst, ist für viele Dinge ja nicht maßgeblich; viele Firmen wollen qualifizierte Mitarbeiter vielleicht nicht verlieren und sagen, ok, dann mach die Hälfte Deines Jobs von 22 Uhr bis 1 Uhr, und für die andere Hälfte kommst du drei Tage die Woche in die Firma. Jeder überlegt sich was, weil wir – wenn wir motiviert sind, finden wir einen Weg. Und dann gibt es ja teilweise noch die Community – wie Michael (Anm.: einer der Protagonisten der interviewten Familien) (im Film) sagte, sie haben z.B. da eine Community, dann verbringen die Kinder teilweise zwei Tage mit jemand anders aus der Community, das ermöglicht den Eltern zwei volle Tage arbeiten, die anderen Tage können sie eventuell zusammen verbringen. Es gibt so viele Wege, die ich schon gesehen habe. Natürlich hilft es, wenn jemand Großeltern oder Tanten in der Stadt hat, aber viele haben das nicht heutzutage. Manchmal ist es so, daß durch das Arbeiten haben die Familien Geld, um für einen Tag in der Woche jemanden zu bezahlen, der mit dem Kind zu den Aktivitäten geht. Oft realisieren sie auch ganz andere Dinge – wenn sie sagen, sie müssen arbeiten, dann stellen sie fest, z.B. die, die alternative Schulen wollen, dass das mehr kostet, und dann müssen sie mehr Geld verdienen, um das Schulgeld zu bezahlen und vielleicht den Hort oder die Betreuung. Manche sagen auch, hey, auch wenn es gar kein Geld gäbe, ich möchte meinen Job behalten, und auch das ist eine Wahl. Die, die mit ihren Kindern zusammen sein und ihnen die Freiheit des Lernens ermöglichen wollen, auch wenn die Kinder nicht ständig bei ihnen sind, die schaffen es irgendwie auf zum Teil verrückten Wegen, und sie minimieren oft ihre Kosten. Jemand in Frankreich hat ein Buch geschrieben, sie hatte ein ganzes Kapitel zu dieser globalen Frage. Es ist nicht nur, wie ich meine Kinder unterrichten lasse, es ist das ganze Leben – es wird alles hinterfragt – bezogen darauf, was kommt monatlich rein, was brauche ich, wie viel ist existentiell, was ist überflüssig.

Ich habe noch eine e-mail-Konversation zu übersetzen, eine ziemlich coole Liste zur Schulreform, es ging um die ideale Schule. Würde diese Schule verpflichtend sein? Würden nur Teilnehmer aus der gleichen Altersstufe zusammen sein ? Wenn der Lehrer den Klassenraum verlassen muss, würde er oder sie die Klasse um Erlaubnis fragen? Wenn eine Lerneinheit oder ein Fach den Schüler nicht interessiert, kann er etwas anderes, für ihn zu dieser Zeit Interessanteres bekommen? Wenn es ihn interessiert, hat er die Möglichkeit, mehr Zeit damit zu verbringen? Was wäre die Rolle des oder der Erwachsenen in dieser Umgebung? Wären sie Lehrer? Würden die Fächer oder der „Unterricht“ frontal und in einzelnen, gleichen Zeiteinheiten und wiederkehrend in einem regelmäßigen Rhythmus stattfinden oder nicht? Würde der Austausch immer am gleichen Ort und mit den gleichen Leuten stattfinden? Das ist erstmal nur Gedankenfutter; aber wenn alle Antworten im freiheitlichen Sinne sind, warum nicht? Und muß es nicht „Schule“ nennen; ich mag „Lernzentrum“, wie Naomi Aldort es nannte. Der Name Schule hat so viel Gewicht auf sich.

Ich habe in Frankreich mit einem Lehrer gesprochen, er ist jetzt pensioniert, aber er hatte eine Schule in einem kleinen Dorf mit einem Mini-Klassenraum. Er war Lehrer und Direktor zugleich,  so konnten sie machen was sie wollten; klar kamen einmal im Jahr die Inspektoren (Anm.: in Frankreich gibt es keine Schulpflicht, aber jährliche Kontrollen durch Inspektoren in verschiedenen Regionen), aber es musste keinen Lehrplan oder ähnliches geben. Die Kinder waren zwischen 4 und 12 Jahren alt und die Familien waren immer herzlich willkommen, die Eltern waren immer ein Teil des Ganzen. Und doch fragte er sich, warum, ab einem gewissen Alter, sollte man die Kinder in einen speziellen Ort schicken und dort separieren? Es scheint so willkürlich, wenn man das nicht tut, und einfach weiterlebt. Zusammen oder auch nicht zusammen, die Leute denken ja oft, man würde dann immer aufeinanderhängen, dabei sehen wir uns auch teilweise den ganzen Tag nicht.

Die Kinder sind so beschäftigt, sie machen ihre eigenen Sachen. Natürlich brauchen sie Begleitung, und sie stellen Fragen, aber nicht zwingend nur von ihren Eltern, und sie wissen, wie sie Fragen stellen müssen, wenn sie Hilfe oder Unterstützung brauchen. Wenn nicht, lasst sie einfach alleine machen.

FLB: Ja, aber man braucht andere Leute rundum, wie Freunde, eine Nanny, oder Großeltern.

Clara: Oder einen Teenager unschooler.

Ein bisschen Taschengeld, und es ist billiger als einen Babysitter zu bezahlen. Manchmal machen sie es auch einfach so, aus Freundschaft. Und manchmal auch innerhalb der Community; ich denke, das ist etwas Wundervolles, es ist eine Art Handel, aber es ist nicht zwingend auf die Art „drei Stunden mit meinen Kindern, drei Stunden mit Deinen Kindern“. Beispielsweise eine Freundin in Los Angeles, sie verbringt einen Tag mit meinem und ihrem Sohn, und dann koche ich mal ein Abendessen für sie. Es ist nicht drei Stunden/drei Stunden, ich sage mal, hey, warum gehst du nicht mal mit Deinem Mann ins Kino, ich bin hier bei den Kindern. Und sie sagt, du gibst anderen Menschen, ich gebe dir. Ich habe keine Angst, dass ich es nicht zurückbekomme, es ist nicht so. Und das ist so wunderschön. Die, die Zeit geben können, tun das, weil sie damit glücklich sind, und sie sind mit ihren Kindern zusammen und haben vielleicht noch einen Spielkameraden für ihr Kind dabei. Und die andere Person gibt an anderer Stelle ihre Zeit, vielleicht drei Jahre später.

FLB: Haben die Menschen, die Du getroffen und interviewt hast, denn immer eine unschooler community um sich herum?

Clara: Manche ja, manche nein; die einen sind sehr autonom; ich habe eine französische Familie getroffen beispielsweise, die sagen, nö, unsere Kinder sind mit Menschen aus und auf der ganzen Welt zusammen. Aber da gibt es außerdem eine Menge Leute, denen es schwerfällt ohne Community. Gerade in Frankreich ist es so, die Schule geht so viele Stunden lang, und dann gibt es noch eine Menge Hausaufgaben, gerade unter der Woche ist es dann schwer, Zeit zu finden und dann kommen die Ferien, und die Eltern fahren mit ihren Kindern weg, weil es die einzige Zeit ist, in der sie das tun können und zusammen sein können. Daher ist es hilfreich, eine Gruppe oder Liste zu haben, eine Community, wo man sagen kann, hey, wir machen das und das, auch wenn es keine kulturelle Aktivität ist, sondern man einfach nur am Freitag in den Park gehen will – denn die Kids gehen nicht zur Schule und sind flexibel. Kulturelle Aktivitäten sind großartig, denn man bekommt in einer Gruppe meist die Schulermäßigung im Museum und Theater. Oder wenn jemand eine Gruppe zum Japanisch-Lernen machen möchte, dann  macht man eine, und es wird für z.B. 12 Kinder bezahlt und jeder hat nur einen Anteil, der für jeden leistbar ist.

WOLLTEST DU SCHON IMMER UNSCHOOLING MACHEN; KANNTEST DU DAS BEREITS, BEVOR DU KINDER HATTEST?

Nein. Ich sage immer, wer weiß, meine Kinder hätten vielleicht ihren 20. Geburtstag feiern können, ohne dass ich davon gewusst hätte, wenn ich nur in Frankreich geblieben wäre, als ich meine Kinder bekam. Denn niemand meiner Freunde kannte unschooling, und natürlich macht es niemand, keiner kannte es auch nur. Ich habe und hätte vermutlich nie Unschooler getroffen, nicht einmal Homeschooler; ich habe keine einzige Person getroffen, die wusste, das es in Frankreich möglich ist. Oder dass es überhaupt geht, dass man so leben kann.  Als ich den ersten im Freundes- und Bekanntenkreis von meinem Projekt erzählt habe, war ihre erste Reaktion: „Bist Du in eine Sekte eingetreten??“ Verrückt. Daher hatte ich Glück, dass ich meine Kinder in Amerika bekommen habe, in Los Angeles, denn L.A. ist sehr alternativ. Ich denke, daher war ich auch offen für natürliche Geburt; ich hätte das in Frankreich vielleicht gar nicht gemacht. Denn mein Papa ist Chirurg, und es gibt viele Ärzte im Umfeld, und vielleicht hätte ich gedacht, Gott sei Dank gibt es eine PDA, denn ich will nicht leiden, es ist masochistisch zu leiden, weil ich geglaubt hätte, ich würde leiden.

Ich bin , ich konnte meine beiden Kinder im Wasser bekommen, und das waren die aufregendsten Momente in meinem Leben, und das Gleiche ist es mit, sagen wir, längerem Stillen, was ich einfach als natürliches Stillen bezeichne, ohne willkürliches Enddatum. Von daher, ich weiß nicht, ob ich offen für diese Möglichkeiten gewesen wäre, einfach meinen Kindern zu vertrauen, dass sie wissen werden, wenn sie bereit sind, aufzuhören, und all diese Dinge. Höchstens vielleicht noch Tragen, ja, ein Tragetuch hätte ich vielleicht gehabt, denn man sieht viele Leute tragen in der Stadt. Aber über Homeschooling hätte ich wohl nichts erfahren, denke ich. Und über Unschooling erst recht nicht. Ich fühle mich so glücklich und daher bin ich froh, die Informationen nun an andere weitergeben zu können, denn ich finde es nicht richtig, dass wir so etwas nicht kennen! Manchmal kommen Leute zu mir, die sagen, ja aber weißt Du, Schule ist doch …etcpp… – aber mein Standpunkt ist, hey, ich bin doch nicht im Krieg gegen Schule. Alles, was ich hier mache, ist eine Möglichkeit vorzustellen, und für manche ist das eben gut, weil sie passt und sie sie noch nicht kannten. Und wenn dein Kind gemobbt wird und du weisst nicht, dass es auch ohne Schule geht, dann ist das nicht richtig. Denn wie soll man wählen, wenn man seine Optionen nicht kennt?

FLB: Clara, vielen Dank für dieses offene Gespräch !

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7 Kommentare, sei der nächste!

  1. Danke, für den Film und das Interview!

    Ich hab esoeben einen interessanten Dialog auf der fb-Seite zu dem Film gehabt, weil ich nachfrug, ob es den Film auch in Deutscher Sprache gäbe.

    Ich begründete meine Frage mit meiner Feststellung, dass ich einem Film weitaus umfassender folgen kann, wenn er synchron übersetzt ist, weil ich neben den Worten auch die Mimik und Gestik erlebe, also emotional mehr mitbekomme.

    Leider scheint mein Englisch mit den Jahren so schlecht geworden zu sein, dass nicht erfasst werden konnte, was ich meine.

    Ist es zu viel erbeten, dass du mit dieser Bitte an dich Macher heran trittst? Den Film in deutscher Sprache zu produzieren, meine ich. Könnte ja notfalls bei startnext gecrowded werden.

    Ich hab so viel existenzielles zu tun, dass ich mir zuerst Zeit für meine Gesundwerdung und die meiner Familie nehmen möchte. bitte also um Nachsicht, dass ich kein entsprechendes Crwodfunding anleiere.

    Danke, für deine Aufmerksamkeit!

    Herzliche Grüße
    Axel

    1. Hallo Axel,
      das wird voraussichtlich nicht möglich sein; die Untertitelung auf Deutsch wurde schon mit einer Art Spendensammlung finanziert und eine komplette Übersetzung wäre wohl deutlichst teurer.
      Ich wünsche Dir alles Gute für Deine Genesung.

  2. Ich möchte mich an dieser Stelle höchst persönlich bei Clara Bellar und ihr Team für ihr Angagement diesen Dokumentarfilm kreiert zu haben herzlichst bedanken und ebenso Danke für ihr Interwiew.

    Die Geschehnisse in diesem Film, die Inhalte und Überzeugungen von Menschen bzw. Familien mit ihren Kindern zeigen, dass in einer Zeit der Fremdbestimmung, Regelementierung und Überwachung von Erziehung und Bildung überzeugende Argumente und in sich sehr stimmiges Bild vom Freien Lernen, wie es funktioniert, dargelegt wurden, die die Tür zu einem gänzlich neuen Dialog im Umgang von Erziehung und Bildung öffnet.

    Mir selber geht es nicht so sehr um die Erziehung und BiIldung als vielmehr die Umstände in der heutigen Zeit, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Dieser Umgang ist geprägt von Vorherbestimmung und Konditionierung, der wir als Eltern durch das alte Paradigma von Erziehungund Bildung durchlaufen sind und glauben es an unsere Kinder so weiter geben zu müsssen.

    Mag es dem einen Bewusstsein klar sein, dem anderen eröffenen sich womöglich neue Erkenntnsisse, während ein anderes Bewusstsein sich nicht damit auseinder setzen möchte, so zeigt der Film Schritte in eine Richtung, dass Schule im herkömmlichen Sinne nicht das NON + PLUS ULTRA darstellt, wie es gemein hin akzeptiert wird.

    ___________________________________

    „Eine Gesellschaft offenbart sich nirgendwo deutlicher als in der Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht.
    Unser Erfolg muss am Glück und Wohlergehen unserer Kinder gemessen werden, die in einer jeden Gesellschaft zugleich die wunderbarsten Bürger und deren größter Reichtum sie sind.“

    Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela
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    In einenr pluralistischen Gesellschaft wie die der BRD darf/muss und sollen Möglichkeiten geschaffen werden, dass Eltern in ihrer freien Enstcheidung und Veratwortung mit ihren Kindern sich dazu enstcheiden dürfen, ihre Kinder nicht in den Lebensort Schule verbannen zu müssen. Wohlweislich, dass es Familien gibt, die sich dieser Verantwortung des Freien Lernens nicht stellen wollen, gilt es doch im gegenseitigen Respekt die Innteressen und Wünsche einer andersartigkeit zu respektieren und zu tollerieren. Hierzu zählt auch, das die Schulpflicht nicht als die Absolutheit betrachtet werden muss.

    FREILENER GEIST 🙂 >3 Walter Neumann

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