„Jaaaa, das mag ja alles noch gehen mit dem freien Lernen mit einem Kleinkind oder Kind im Grundschulalter; spätestens wenn es um die höhere Mathematik geht, ist es vorbei damit! Da kommen Kinder von selbst nicht hin! Oder die Eltern müssen das alles können.“ So ist es oft zu hören. Dr. Henning Thielemann, Mathematiker und Informatiker, beschreibt im Interview mit dem Freilern-Blog anschaulich und auch für uns Nicht-Mathematiker verständlich, wie er sich Zusammenhänge selbst hergeleitet hat, inwiefern ihn sein Vater unterstützte und welche Rolle die Schule und Schülerwettbewerbe für ihn spielten – aber auch für andere. Hier wird wieder einmal deutlich, dass es nicht den einen richtigen Weg für alle gibt. Es geht auch um die allfällige Frage nach der Sozialisation; außerdem um Disziplin oder Gehorsam und die Frage, was schwerer ist – 1 kg Eisen oder 100 g Federn.
- Und was machst Du so …. Beruflich ;-)?
Nach vielen Jahren an Universitäten als Student und wissenschaftlicher Mitarbeiter bin ich seit zwei Jahren Freiberufler und entwickle für meine Kunden Programme, die deren mathematische Probleme lösen. Derzeit entwickle ich zum Beispiel für das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei ein Programm für die automatische Erkennung von Froschlauten.
- War Mathematiker oder Informatiker dein Traumberuf?
Wir wurden als Schüler hin und wieder nach unseren Berufswünschen gefragt, und die Lehrerin hat das auch aufgeschrieben. Ich habe in jungen Jahren mit „Lokführer“ geantwortet. Bis ich herausbekommen habe, dass man da auch „Mathematiker“ antworten kann, hat es eine Weile gebraucht. Ich hatte keine Vorstellung davon, was Mathematiker so machen, und wo sie arbeiten und wie deren Arbeitsalltag aussieht. Ich hatte keine Vorbilder. Ich hatte später einmal die grandiose Idee, als „Mathematiker“ verkleidet zum Fasching zu gehen. Von Mitschülern wurde mein mit mathematischen Symbolen gezierter Umhang eher einem Zauberer zugeschrieben. Aber diese Assoziation hat auch was, finde ich.
- Wann und wie hast Du gemerkt, dass Dich Mathematik besonders interessiert? Wie hast Du Mathematik „gelernt“?
Beim Schuleingangstest wurde ich gefragt, was ich im Kindergarten am liebsten gemacht habe und daraufhin habe ich das erste Mal darüber nachgedacht und habe „Mengenbeschäftigung“ geantwortet. Von da an war mein Weg vorgezeichnet. 🙂 Anfangs habe ich noch die Rechenvorschriften für die Grundrechenarten aus der Schule mitgenommen. Von meiner Unterstufenlehrerin habe ich auch den Ratschlag erhalten, die schriftlichen Rechnungen doch lieber schriftlich durchzuführen, um Fehler zu vermeiden. Den Ratschlag habe ich natürlich umfassend ignoriert, denn ich hatte den Ehrgeiz, die Rechnungen ohne Notizen auf Papier hinzubekommen. Dezimalbrüche habe ich mir von meinem Vater erklären lassen, negative Zahlen habe ich von einem Mitschüler aufgeschnappt. Dann habe ich Blätter mit Zweierpotenzen vollgeschrieben, indem ich die Zahlen immer zu sich selbst addiert habe. Kariertes Papier habe ich mit kleinen, großen, und ganz großen Einmaleinsen gefüllt. Außerdem habe ich das Buch „Hexeneinmaleins“ von Manfred Scholtyssek geliebt. Darin waren sehr viele Zahlenspielereien, Kopfrechentricks, magische Quadrate und Kartentricks beschrieben und das alles sehr liebevoll mit Mäuschen illustriert.
Während eines langweiligen Ausdauerlaufs beim Judotraining hatte ich ein wenig mit Quadratzahlen gespielt. Mir war aufgefallen, dass sich eine um eins verringerte Quadratzahl gut in Faktoren zerlegen lässt, während das bei um eins erhöhten Quadratzahlen nicht funktioniert. 16+1 ist zum Beispiel eine Primzahl. Zudem ließen sich immer Faktoren finden, die um eins höher oder niedriger waren, als die Wurzel der Quadratzahl. Also beispielsweise 6²=36 und 5·7=35. Das funktionierte mit jeder Quadratzahl. Toll, meine Detektivneugier war geweckt! Also habe ich andere Differenzen probiert. Zwei geht nicht immer, z.B. 25-2 ist eine Primzahl, 16-3 auch. Aber bei 4 geht es wieder und auch wieder bei allen Quadratzahlen: 16-4=(4-2)·(4+2), 25-4=(5-2)·(5+2), 36-4=(6-2)·(6+2). Irgendwann hatte ich ein Prinzip erkannt und wollte von meinem Vater wissen, ob das so stimmt. Dafür musste ich meine Entdeckung erst einmal in eine Formel verpacken. Und dann hatte ich es endlich mit einem Stock in den Sandkasten unseres Gartens gestochert: a²-b² = (a-b)·(a+b). Mein Papa meinte, das wäre eine binomische Formel und die könne man ja einfach überprüfen, indem man die rechte Seite ausmultipliziert. Hm stimmt, das ist ja wirklich einfach. Gut, eine bahnbrechende Entdeckung hatte ich also doch nicht gemacht – aber den Zusammenhang habe ich mir auf jeden Fall gut gemerkt!
Auf einer Zugfahrt nach Bitterfeld zum Startbahnhof für eine Reise ins Ferienlager, habe ich mit meinen Eltern diskutiert, wie viele Möglichkeiten es gibt, uns drei Leute auf vier Sitze zu verteilen. Eine Studentin nebenan wusste zwar, dass das in den Bereich der Kombinatorik fällt, aber nicht, wie man das Problem löst. Ich habe im Ferienlager erst einmal versucht, viele einfache Fälle abzuzählen und musste mir eine Systematik überlegen, damit ich beim Zählen nichts vergesse und nichts doppelt zähle. Auf diese Weise habe ich ein Gefühl für die Zusammenhänge dahinter bekommen und am Ende des Ferienlagers hatte ich das Problem allgemein gelöst. Ich konnte also allgemein berechnen, wieviele Möglichkeiten es gibt, n Personen auf m Sitzen mit n≤m zu platzieren (Variationen ohne Wiederholungen) oder n von m Sitzen zu belegen (Kombinationen ohne Wiederholungen), hatte also insbesondere das Pascalsche Dreieck wiederentdeckt.
Auf einer Autofahrt wollte ich von meinem Vater wissen, wie ein Taschenrechner funktioniert. Da hat er mir erklärt, dass der Taschenrechner im Dualsystem rechnet und hat mir später gezeigt, wie man im Binärsystem addiert und subtrahiert. Nachdem ich mich eine Weile damit beschäftigt habe, bin ich selbst darauf gekommen, dass die Wertigkeiten der einzelnen Stellen genau den Zweierpotenzen entsprechen. Nun wollte ich noch wissen, wie der Taschenrechner diese Rechnungen durchführt. Also hat mir mein Vater Relaisschaltungen für Halbaddierer und Volladdierer aufgezeichnet. Davon ausgehend habe ich versucht, Subtrahierer, Multiplizierer und Dividierer auf Papier zu entwerfen. Ob die Schaltungen funktioniert hätten, konnte ich nie überprüfen. Auch fehlte mir das Konzept der Taktung, die es erlaubt, eine Schaltung nur einmal aufzubauen, aber mehrmals und dafür zeitlich hintereinander, anzuwenden. Bemerkung am Rande: Ein Studienfreund hat mich darauf hingewiesen, dass viele Taschenrechner gar nicht binär, sondern dezimal rechnen. Man kann das überprüfen, indem man 1 ganz oft durch 2 teilt und dann wieder so oft mit 2 multipliziert, bis wieder eine 1 da steht. Wenn man jetzt 1 abzieht und es kommt nicht null heraus, dann bedeutet dies, dass der Rechner Zweierpotenzen nicht exakt darstellen kann. Nun kann man das gleiche Experiment wiederholen mit dem Teilen durch und Multiplizieren mit 10.
In den Sommerferien nach der vierten Klasse kam in unseren Haushalt ein Heimcomputer der Marke ZX Spectrum. Wir hatten uns da an meinem Onkel orientiert, der den gleichen Rechner schon länger besaß und wo ich mit seiner Hilfe meine ersten Computergrafiken programmiert habe.
Es ist mir nicht klar, wie solche Heimcomputer in die DDR gekommen sind. Es gab ja das CoCom-Technik-Export-Embargo des Westens und man hatte in der DDR eigentlich keine Möglichkeit D-Mark oder Pfund Sterling zu verdienen. Aber irgendwie ging das unmögliche doch und über Beziehungen haben meine Eltern eine solche Wunderkiste gebraucht aufgetrieben. Mein erstes Programm sollte ein Taschenrechnerprogramm sein: Man gibt zwei Zahlen und eine Operation ein und das Programm spuckt das Ergebnis aus. Auf ein kniffliges Problem stieß ich beim dekadischen Logarithmus, der im ZX-Spectrum-BASIC nicht als Funktion vorgesehen war. Im vollen Bewusstsein, dass mein Ansatz unorthodox war, versuchte ich, den dekadischen Logarithmus als Aufgabe zu formulieren, etwa: LET x=10↑y oder LET 10↑y=x, wobei x gegeben und y die Unbekannte war. Das erste hat der Rechner akzeptiert, brach aber das Programm mit dem Fehler „Variable not found“ ab. Der zweite Ansatz scheiterte schon an der Syntaxprüfung. Es half nichts: Bei LET muss auf der linken Seite immer ein Variablenname stehen und der Ausdruck auf der rechten Seite muss vollständig bestimmt sein. Das Problem musste man also mathematisch lösen, und glücklicherweise fand mein Vater im Tafelwerk die passende Lösung: LET y=LN x/LN 10. Randbemerkung: So blöd war meine erste Idee zur Berechnung des dekadischen Logarithmus gar nicht, denn die sogenannte logische Programmierung funktioniert im Wesentlichen so.
Dieses erste Taschenrechnerprogramm habe ich erst einmal in einem Heft notiert, denn wir hatten noch keine Verbindung für die Klinkenausgänge am ZX Spectrum zur Diodenbuchse am DDR-Kassettengerät. Den entsprechenden Adapter hat dann recht bald mein großer Bruder zusammengelötet.
Ich kann mich noch an ein weiteres Aha-Erlebnis erinnern: Mein Onkel hatte mir mal gezeigt, wie man einen Befehl mehrmals ausführt. Das sah etwa so aus: LET i=0: FOR i=i+1 TO n: PRINT i: NEXT i. Also war mir klar: Zuerst wird die Variable i auf 0 gesetzt, dann wird wiederholt i durch i+1 ersetzt, so lange bis i den Wert n erreicht und in jedem Schritt der Schleife wird der aktuelle Wert von i auf dem Bildschirm ausgegeben. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich im BASIC-Handbuch entdeckt habe, dass man folgendes schreiben kann: FOR i=0 TO n: PRINT i: NEXT i. Ich habe mir gedacht, dass das nicht funktionieren kann, weil ja nirgendwo steht, wie i erhöht werden soll. Also habe ich es ausprobiert – und es ging! Aber wie können sowohl die Befehlsfolge aus dem Handbuch als auch meine funktionieren, wenn ihnen ganz verschiedene Erklärungen zugrunde liegen? Nun, es stellte sich heraus, dass meine Erklärung im Allgemeinen falsch war, im speziellen Fall aber zufällig das Beobachtete erklären konnte. Hätte ich einmal eine andere Schrittweite als 1, also beispielsweise 2, gewählt, sprich: LET i=0: FOR i=i+2 TO n: PRINT i: NEXT i probiert, dann wäre mir der Irrtum schon eher aufgefallen. Meine Schleife hätte nämlich gar nicht in Zweierschritten gezählt, sondern hätte bei 2 beginnend in Einerschritten gezählt.
Ursprünglich als Familiencomputer angeschafft, habe doch die meiste Zeit ich an dem Rechner verbracht. Ich durfte offiziell zwar nur am Samstag für zwei Stunden an den Rechner, aber es war bald klar, dass sich in dieser Zeit die Möglichkeiten der Maschine niemals ausreichend erforschen lassen, weswegen ich heimlich die Zeiten immer weiter ausgedehnt hatte. Das Ende vom Lied ist, dass meine Eltern nicht verhindern konnten, dass ich Informatiker geworden bin. Was sie erreicht haben, ist ein schlechtes Gewissen. Früher durfte ich mir zuweilen den Vorwurf „Stubenhocker“ anhören. Mein schlechtes Gewissen relativierte sich, nachdem ich mir überlegt habe, wievielen Aktivitäten an der frischen Luft meine Eltern nachgingen. Heute verpasst man Computerenthusiasten Etiketten wie „Nerd“. Aus irgendeinem Grunde muss man sie anscheinend ausgrenzen und dann noch den Vorwurf erheben, sie seien weltfremd. Bekommen Eltern auch die große Panik, wenn ihr Kind statt intensiver Computernutzung leidenschaftlich ein Musikinstrument einstudiert? Wahrscheinlich nicht, aber warum?
Mit dem ZX Spectrum hatte ich schon recht viel programmiert. Ich habe mir ein Programm geschrieben, um Primzahlen aufzulisten. Dann wollte ich eine Rechenscheibe basteln, weil ich die Behandlung des Überlaufs bei einem Rechenschieber sehr umständlich fand. Die Winkel für die Striche auf der Rechenscheibe habe ich mit einem eigenen Programm berechnet. Ein Programm zum Erraten von Mastermind-Codes habe ich geschrieben. Dann habe ich mit Wham! Musikstücke arrangiert, mit ArtStudio Bilder gemalt oder Bilder aus Spielen modifiziert, habe mich mit VU3D an 3d-Konstruktionen versucht, habe auch hin und wieder gespielt und erfolglos versucht, ähnlich flüssige Spiele zu programmieren. Dann habe ich mich in Assemblerprogrammierung vertieft, aber nur ganz einfache Grafikroutinen habe ich wirklich zum Laufen bekommen.
Abgesehen von den ersten angeleiteten Programmierschritten durch meinen Onkel habe ich mich allein durch Bedienungsanleitung und Herumprobieren mit der Technik vertraut gemacht. Es gab einfach keinen in meiner Umgebung, den ich hätte fragen können. Einen richtigen Anspruch auf Selbständigkeit hatten aber mein Vater und mein Bruder. Ich hätte beiden liebend gerne genau erklärt, wie das alles an dem Rechner funktioniert und wie man bestimmte Probleme behebt, aber die wollten das nicht wissen und alleine darauf kommen, hatten dafür aber sehr viel weniger Zeit.
- Einer der häufigsten Einwände gegen das Freilernen lautet, dass das ja alles noch klappen mag, solange die Kinder klein sind. Aber bei großen Kindern könne man das nicht mehr gut begleiten als Eltern, wenn man selbst nicht Fachmann/-frau auf dem entsprechenden Gebiet ist. Als Beispiel wird hier häufig die höhere Mathematik herangezogen. Wie siehst Du das?
So wie ich mir die einfachen mathematischen Zusammenhang erarbeitet habe, habe ich mit den komplizierteren weitergemacht. Ich wollte beispielsweise von meinem Vater wissen, wie man so krumme Funktionen wie Sinus und Cosinus usw. berechnet. Mein Vater konnte sich noch dunkel an Taylorreihen aus dem Studium erinnern, hat mir aber für Details die „Kleine Enzyklopädie Mathematik“ und „Mehr Spaß mit dem Taschenrechner“ von Werner Gilde in die Hand gedrückt. Da stand alles drin, was ich wissen wollte und noch viel mehr. Ich wollte meinem Vater nach der Lektüre erklären, wie man den Sinus berechnet, so schwierig fand ich es nämlich nicht, aber er hat nur abgewinkt. Mit den Reihenresten, also der Frage, wie nah die Näherungen an den tatsächlichen Sinuswerten liegen, habe ich mich damals noch nicht beschäftigt. Das habe ich erst im Studium gelernt und auch erst dort zu würdigen gewusst. In der sechsten Klasse habe ich mich dann mit Differentialrechnung befasst. Ich denke, ich bin darauf gekommen, weil ich wissen wollte, wie man die Taylorreihen herleitet. Mein Vater hat mir dazu passend „Das Tor zur höheren Mathematik“ geschenkt. Man erkennt daran auch, dass ich praktisch die umgekehrte Reihenfolge zum Lehrbuch gewählt habe: Dort werden nämlich erst Grenzwerte, dann Differentialrechnung und zum Schluss Taylorreihen behandelt. So baut zwar sauber eines auf dem anderen auf, aber das interessanteste kommt leider erst zum Schluss. Dann gab es eine Phase, in der mein Bruder auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) sein Abitur gemacht hat. Die scheinen da richtig anspruchsvollen Mathematikunterricht veranstaltet zu haben. Jedenfalls kam mein Bruder mit solchen Sachen wie Determinanten, Polynomdivision usw. nach Hause. Das musste ich natürlich auch alles wissen.
Dann kam die Wende, der ZX Spectrum wich einem Amiga 500, mit dem ich endlich Klangsignale berechnen und verändern konnte. Ich hatte vorher schon das Buch „Moderne Musikelektronik“ von Schulze und Engel studiert, in dem zahlreiche elektronische Schaltungen für Synthesizer beschrieben wurden. Löten war aber nicht mein Ding, Mathematik dafür umso mehr, also wollte ich die Wirkung der einzelnen Synthesizerbestandteile am Computer programmieren und mit dem Amiga ging das endlich. In der Uni-Bibliothek fand ich das Buch „Digitale Filter“ von Richard Hamming. Es hieß zwar in dessen Einleitung, dass nur grundlegende Kenntnisse zum Verständnis nötig wären, aber dazu zählte beispielsweise auch lineare Algebra, womit ich erst im Studium in Berührung bekam.
Höhepunkt meines Erkenntnisgewinns aus dem Buch war sicher die Cooley-Tukey-Fouriertransformation, die ich auch in Assembler auf dem Amiga programmiert habe. Mit einem Programm zur Klangverarbeitung bin ich dann bei „Jugend forscht“ angetreten.
- Man könnte sagen, Du bist bestimmt (hoch)begabt im mathematischen Bereich. „Nicht jedes Kind“ kann das. Was meinst Du dazu?
Mathematik hat mich interessiert. Das war irgendwie in mir drin. Ich hatte kein Vorbild, niemanden der mich dafür begeistert hat – aber auch keinen der es mir abgewöhnen wollte. Alles weitere hat sich aus diesem Interesse ergeben. Es würde mich sehr wundern, wenn es viele Kinder gäbe, die sich ähnlich stark für Mathematik interessierten. Andererseits wäre es auch ziemlich doof, wenn alle Leute auf Mathematik fokussiert wären, oder? Es gibt ja noch so viele andere Sachen, die Interesse von Menschen verdient haben. 🙂
- Denkst du, dass es gut war, so früh dein Interesse für Mathematik zu entdecken? Oder anders gefragt: Was hältst du von dem Spruch: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“?
Ich habe den Spruch auch zu hören bekommen, muss aber sagen, dass mir ein 50jähriger, der sich für Mathematik interessiert lieber ist, als ein desinteressierter 10jähriger, dem ich was beibringen soll. Als „guter“ Schüler wurde ich in der Unterstufe dazu abgestellt, einem „nicht so guten“ Schüler Mathematik-Nachhilfe zu geben. Das war eine große Qual für uns beide: Für mich, weil ich jede Woche wieder von vorne anfangen musste, weil er alles von der vorhergehenden Woche vergessen hatte und für ihn, weil es ihn schlicht nicht interessiert hat. Didaktisch war ich völlig unbeleckt und habe mich voll auf die Vermittlung von Stoff konzentriert und nicht auf die Motivation. Ich denke, wir hätten die Zeit sinnvoller mit Spielen verbracht. Er hatte den Plan, einen Kinderzirkus zu gründen, woraus leider nichts geworden ist.
Nur nebenbei: Mich nerven auch die Hausaufgaben-Anfragen bei wer-weiss-was.de. Das Portal untersagt zwar, Hausaufgaben als Fragen zu stellen, trotzdem sind die meisten Anfragen Hausaufgaben, oder zumindest vermute ich das sehr stark, weil die Formulierungen total typisch für Hausaufgaben sind („Gegeben sei die Funktion f …, bestimmen Sie …“) und total untypisch für reale Probleme („Ich habe versucht auszurechnen, wohin meine Drohne stürzt, wenn die Batterie leer ist, aber ich komme irgendwie nicht weiter …“). Heute ist es mir zu schade um die Zeit, um Leuten Aufgaben zu lösen, deren Lösung sie gar nicht interessiert. Ich denke, wir können unsere Zeit alle sinnvoller verbringen.
Und dann kenne ich positive Beispiele von Leuten, die erst nach Erlernen eines Berufes oder Absolvieren eines Studiums den Wert von Mathematik erkennen und sich dann mit großer Motivation zum Beispiel in ein Mathematik-Studium stürzen. Wenn man weiß, wozu es gut ist, versteht man auch, warum im Mathematik-Studium bestimmte Probleme behandelt werden.
Also um noch einmal auf die Frage zurückzukommen: Interesse erachte ich für den Lernerfolg als sehr viel wichtiger als das Alter.
- Dein Vater hat Dich unterstützt. Denkst Du, er brauchte / hatte dazu besondere Kenntnisse im Bereich der Mathematik? (Oder braucht es quasi nur jemanden, der dem Kind hilft, an die richtigen Stellen/Leute/Mentoren zu kommen; sozusagen Hilfe beim Finden der Dinge oder Menschen, die weiterhelfen?)
Mein Vater hatte sicher die Mathematikkenntnisse, die man als Ingenieur braucht und was so im Studium hängen geblieben war, hatte aber darüberhinaus keine mathematischen Ambitionen. Das wäre wahrscheinlich auch nicht gut gewesen, denn die Sachen, für die er sich begeistert hat, etwa Gärtnern, Häuslebauen und Modelleisenbahnplattenbau, hat er gleich selber übernommen und da konnte ich bestenfalls Handlanger spielen. Einmal wollte ich ein Buch schreiben. Diese Idee fand mein Bruder großartig und hat mir aus verschiedenen Büchern Artikel über Farbmischung und optische Täuschung rausgesucht, aus denen ich Auszüge zusammenschreiben sollte. Das habe ich zwar auch gemacht, aber es war eigentlich nicht mehr mein Projekt.
Dann gab es noch zwei Sachen, die ich gemacht habe, weil sie mein Bruder gemacht hat: Judo und eine Elektronik-AG. Niemand hat mich gedrängt, dorthin zu gehen, aber irgendwie nahm ich an, dass ich das auch tun sollte. Es hat in beiden Fällen etwas Zeit gebraucht, bis ich darauf gekommen bin, dass das nicht meins ist. Es war aber immer mein Erkenntnisprozess und meine eigene Entscheidung zur Aufgabe.
Ansonsten hat mein Vater eine ganze Menge versucht, um mir mehr Förderung angedeihen zu lassen. Ab der dritten Klasse konnte man bei Interesse und ausreichend guten Noten in die Russischschule wechseln, wo man nicht erst ab der fünften, sondern schon ab der dritten Klasse Russischunterricht bekam. Meinen Freundeskreis aufzugeben, um ein Fach eher zu bekommen, was mich kaum interessierte, kam für mich überhaupt nicht in Frage. Also behielt ich den ausgeteilten Informationsbrief an unsere Eltern für mich. Als mein Vater später erfuhr, dass es da so einen Brief gab, war er erst empört. Natürlich hätte er mich dort angemeldet. Auch wenn Russisch nicht mein besonderes Interesse galt, so wäre doch das Niveau an der Russischschule allgemein höher. Nachdem ich ihm erklärt habe, dass es nichts für mich ist, hat er es aber akzeptiert.
Dann hatte er die mathematische Schülerzeitschrift „alpha“ abonniert. Weiter war ich in einer Mathe-AG in der Station Junger Techniker und Naturforscher Ziolkowski in Halle-Neustadt. Weil ich dort etwas unterfordert war, wollte mich die AG-Leiterin gerne zur Teilnahme der AG in der nächsthöheren Klassenstufe überreden. Aber ich hatte mich schon mit den Teilnehmern der AG angefreundet und wollte deshalb nicht weg. Später hat mich mein Vater an eine Arbeitsgemeinschaft in Halles Altstadt in den Franckeschen Stiftungen vermittelt, dann zu einem Korrespondenzzirkel, später zu Privatsitzungen mit einer Uni-Dozentin. Die Frau musste ständig alles kommentieren und bewerten, was ich so gesagt habe. Das war mir sehr unangenehm und so blieb es bei einer Sitzung. Dann saß mein Vater mit mir beim Dekan der Sektion Mathematik der Uni, um sich beraten zu lassen, ob ich lieber zu den mathematischen Spezialklassen der Uni ab der 11. Klasse oder zur Spezialschule ab der 9. Klasse gehen solle. Die Entscheidung für die Spezialschule erwies sich als richtig, denn die Spezialklassen wurden recht bald aufgelöst. Heute sind sie übrigens in abgewandelter Form als Schnupperstudium zurückgekommen: Interessierte Schüler können schon während der Abiturzeit Vorlesungen an der Uni hören.
- Der Schulmathematikunterricht scheint keinen großen Einfluss auf deine mathematische Entwicklung gehabt zu haben. Wie hast du den normalen Mathematikunterricht erlebt, was hast du da gemacht?
Ich weiß es nicht mehr genau, ich kann mich auch an keinen großen Erkenntnisgewinn aus dem Schulmathematikunterricht erinnern. Ich weiß noch, wie eine Mathematiklehrerin an der POS wollte, dass wir alle den Satz „Eine Funktion ist eine eindeutige Abbildung“ auswendig lernen und aufsagen. Ich habe ihn ihr zuliebe auch aufgesagt, obwohl die Lehrerin schon einschränkte, dass sie mir die Kenntnis dieses Satzes auch ohne das Aufsagen glaubt, aber da ihn alle aufsagen sollten, sollte ich es der Vollständigkeit halber auch tun. Heute denke ich mir zum einen, dass es schon ein wichtiger Satz ist, dessen Tragweite einem aber nicht durch das Auswendiglernen bewusst wird. Die Tragweite erkennt man erst, wenn man darüber debattiert, was eine Funktion nicht ist, oder was man früher darunter verstanden hat oder was man heute noch darunter verstehen könnte. Zum anderen denke ich mir, dass wahrscheinlich ein großer Teil der Menschheit auch ohne Kenntnis des Funktionsbegriffs ein erfülltes Leben führen kann. 🙂
Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass ich die Klassenarbeiten dadurch etwas anspruchsvoller gestaltet habe, dass ich versucht habe, weniger zu schreiben und mehr im Kopf zu rechnen. So habe ich erst versucht, eine Klassenarbeit auf einem einzelnen Blatt unterzubringen, dann auf nur einer Seite. Zum Schluss habe ich vier Klassenarbeiten auf einem Blatt untergebracht und weniger ging eigentlich nicht mehr, weil allein die Ergebnisse diesen Platz benötigten.
Nach der achten Klasse wechselte ich von der POS in die Spezialschule, die zwischenzeitlich zu einem Gymnasium mit mathematisch-naturwissenschaftlich-technischer Ausrichtung umbenannt und umgewandelt wurde. Dass dort mein richtiger Platz sei, war schon lange klar. Zu jener Zeit wurde das Schulsystem der DDR aufgelöst und das mehrgliedrige System aus der alten BRD übernommen, weswegen meine Klasse an der POS ohnehin aufgelöst wurde. Trotz des besonderen Profils des Cantor-Gymnasiums und der Aufnahmeprüfung waren es aber eigentlich nur zwei Leute von 50 in meinem Jahrgang, die ein besonderes Interesse an Mathematik hatten. An denen hat sich der Unterricht nicht orientiert. Am besten hat mir noch gefallen, dass mir mein Mathelehrer ohne Vorankündigung Einführungen in Logarithmen und lineare Gleichungssysteme übertragen hat. Bei zweiterem habe ich mich heillos verzettelt. Meine Mitschüler haben alle schon gesehen, wie die Aufgabe zu Ende gelöst wird, nur ich nicht. Na egal, allein, dass mir mein Mathelehrer zugetraut hat, ohne Vorbereitung vor der Klasse ein neues Thema einzuführen, hat meinem Ego gut getan.
Damals war Informatikunterricht an Schulen noch relativ neu und in der Abiturstufe am Gymnasium auch vergleichsweise anspruchsvoll. Einmal habe ich den Kurs beim Programmieren mit Zeigern in TurboPascal gesehen. Etliche meiner computerbegeisterten Mitschüler haben dort vor allem mitgemacht, weil es sichere 15 Punkte in den entsprechenden Halbjahren versprach, mit denen man das Abiturzeugnis schmücken konnte. Ich habe mich damals bewusst gegen eine Teilnahme am Schulunterricht entschieden. Zeit für meine eigenen Programmierprojekte war mir wichtiger, als eine aufgehübschte Zeugnisnote. Ich denke im Nachhinein, dass die Entscheidung absolut richtig war.
Nachdem ich erst auf der POS (also der „normalen“ Schule), dann in den Arbeitsgemeinschaften und zum Schluss in der Spezialschule nichts wesentlich neues über Mathematik gelernt hatte, machte ich mir Sorgen, dass das im Studium so weitergehen könnte. Mein Bruder konnte diese Bedenken zerstreuen. Er meinte, dass Mathematik an der Universität schon wesentlich anspruchsvoller als an der Schule sei. Er riet mir daher zu einem Mathematik-Studium und zusätzlich zu einem „praktischen“ Wahlpflichtfach wie BWL. Den ersten Ratschlag habe ich befolgt und den zweiten in den Wind geschlagen. Ich dachte mir, dass ich als einer von tausenden Wirtschaftsstudenten, noch dazu einem nur mäßig interessierten, recht überflüssig bin. Ich entschied mich also zum Studium der Informatik mit Wahlpflichtfach Mathematik, und ich halte das bis heute für eine gute Entscheidung. Auch im Studium habe ich bewusst Massenveranstaltungen gemieden und bin bevorzugt zu den „Orchideen“-Vorlesungen gegangen. Ich habe zum Beispiel im Informatik-Studium keine Datenbank-Vorlesung gehört, was mancher Informatik-Professor sicher als unerhört empfindet. Die Ironie des Schicksals war, dass ich später in der Arbeitsgruppe Datenbanken angestellt war und Übungen geleitet habe und dabei den Datenbank-Stoff nachgeholt habe.
- Ging es dir im Mathematikunterricht nur zu langsam voran oder hast du daran grundsätzlich etwas zu bemängeln?
Zunächst würde ich gerne zwei Dinge auseinanderhalten: Es gibt Rechnen und es gibt Mathematik. Ich habe einmal folgenden Spruch gelesen: „Mathematik ist die Kunst, das Rechnen zu vermeiden.“ Da steckt meiner Meinung nach viel wahres drin: Mathematik ist eine Kunst (und Rechnen ist ein Handwerk) und Mathematik und Rechnen sind nicht das gleiche.
Schulmathematik ist eigentlich Rechnen, etwa: Aufgabentyp A erfordert in Fall 1 Lösungsweg B und in Fall 2 Lösungsweg C. Für so etwas hat man heute Computer (auf deutsch: Rechner). Ich will es nicht abwerten – ich brauche die Rechenverfahren der Schule hin und wieder fürs Programmieren. Die Verfahren helfen mir aber nur, wenn ich sie verstanden habe und auf Verstehen wird in der Schulmathematik kaum Wert gelegt. Wer weiß schon, warum die Schuldivision funktioniert? Es ist aber wichtig, wenn man das Verfahren für eigene Zwecke abwandeln will oder auch um den legendären Pentium-FDiv-Fehler zu verstehen.
Während in der Schule die Aufgabe immer klar ist und die Lösung eindeutig (und wenn die Schülerlösung von der Musterlösung abweicht, dann kommen manche Lehrer ganz schön ins Schwitzen oder sie bügeln die Nichtstandardlösung als falsch ab), ist in der richtigen Mathematik häufig nicht einmal die Aufgabe klar. Da müssen Definitionen entwickelt werden, Beweise geführt und verschiedene denkbare Herangehensweisen gegeneinander abgewogen werden. Wo kommt das im Schulmathematikunterricht vor?
Das zweite Problem sehe ich in der Auswahl und Ausbildung der Lehrer. Welcher Mathematiklehrer hat schon einmal Mathematik in der „realen Welt“ betrieben? Die geradlinige Ausbildung eines Lehrers sieht so aus, dass er bis zum etwa 19. Lebensjahr die Schulbank drückt, dann an der Universität auf Lehramt studiert und dann wieder an die Schule wechselt. Ein Lehrer hat also „im Idealfall“ nie das Berufsleben außerhalb von Lehranstalten erfahren.
- Hast Du ein paar Beispiele für uns?
Na klar – erst zum Thema Mathematik vs. Rechnen:
Irgendwann lernt man Termumformungen, Umstellen von Gleichungen, Metapher von der Waage usw. Das Umstellen von Gleichungen erfordert im Allgemeinen etwas Mitdenken und Vorausschauen, ist also nicht nur stures Rechnen. Bei mir kam im Mathematikunterricht später das Thema Verhältnisgleichungen dran (in manchen Regionen als Dreisatz bekannt). Da haben wir für jeden möglichen Fall, wo die Unbekannte stehen kann, eine eigene Lösungsformel präsentiert bekommen. Diese Herangehensweise zielte also auf Merken oder Nachschlagen ab. Das fällt für mich unter „Rechnen“. Es lag mir natürlich fern, diese Formeln auswendig zu lernen und sie dann vielleicht noch zu verwechseln, denn es ergab sich ja alles durch einfache Gleichungsumstellungen. Dieses Kapitel erschien mir daher völlig überflüssig. Aber damit nicht genug. Dem Kapitel zu Verhältnisgleichungen folgte das Kapitel über Prozentrechnung. Da wurden alle Formeln aus dem vorigen Kapitel wiederholt, nur stand jetzt im Nenner der Brüche immer 100. Man hätte das ganze Kapitel eindampfen können auf %=1/100. Es wundert mich jedenfalls nicht, wenn Menschen nach dieser Lehreinheit nicht mit Prozentangaben umgehen können.
Noch ein weiteres Beispiel: In der Mitteldeutschen Zeitung vom 20. Februar 2015 las ich in dem Artikel „Massive Matheversagen bei den Abi-Prüfungen“, dass die Mathematik-Abitur-Aufgaben in Sachsen-Anhalt 2014 nach übereinstimmender Auffassung von Schülern und Lehrern viel schwerer als sonst gewesen seien. Die Zeitung zitiert Jürgen Mannke, Landesvorsitzender des Philologenverbandes: „‚Es kamen aber zu viele nicht-glatte Zahlen heraus, mit vielen Stellen hinter dem Komma. Das hat es unnötig verkompliziert und die Schüler verwirrt‘. Viele Schüler hätten wegen der krummen Ergebnisse vermutet, Fehler gemacht zu haben und seien nervös geworden. ‚Und Nervosität kann man in einer Prüfungssituation nicht gebrauchen.’“
Andere Stimmen meinen, dass nicht-ganzzahlige Lösungen nicht die Hauptschwierigkeit darstellten, aber ich finde diesen Anspruch auf ganzzahlige Lösungen schon bemerkenswert. Da frage ich mich: Sollen Schüler wirklich lernen, Ganzzahligkeit von Lösungen als Kontrolle für ihre Lösungen zu verwenden? Natürlich sind Plausibilitätstests wichtig, aber es sollten schon welche sein, die nicht auf versteckten Hinweisen der Aufgabensteller beruhen.
Jetzt ein Beispiel zu Mathematiklehrern: Bei der Bundesrunde der Mathematikolympia in Essen 2004 saß ich neben einer Lehrerin bei der Korrektur einer Geometrieaufgabe. Bei der ersten Schülerlösung fragte sie mich, ob sie dem Schüler einen Punkt dafür abziehen solle, dass er sein Dreieck nicht ABC sondern PQR genannt hatte. Ich erwiderte empört: „Nein!“ Ob sie ihm wenigstens eine Bemerkung dazu schreiben solle? „Nein!!!“ Mir ist auch schon von anderen Mathematiklehrern berichtet worden, die ihre Schüler darauf drillen, dass sie die Punkte eines Vielecks im mathematischen positiven Drehsinn mit A, B, C, D usw. zu bezeichnen haben. Natürlich kann es eine nützliche Konvention sein, aber für die Mathematik ist die konkrete Bezeichnung unerheblich. Man hört ja immer viel darüber, das Mathematik mit Strenge und Genauigkeit zu tun hat und bei manchen Lehrern scheint das in einen falschen Hals zu geraten und die machen aus mathematischer Strenge ein Herumreiten auf Konventionen. Gut, aber woher will man es wissen, wenn man nie Mathematik in „freier Wildbahn“ erlebt hat?
- Stichwort Strenge: Wenn man so wie du Mathematik im Alleingang erlernt, kann man sich dann auch Disziplin aneignen, oder braucht es dafür jemanden, der stets aufpasst, dass man sich an die Regeln hält?
Auf dem Schulfrei-Festival 2014 hat Bertrand Stern in seinem Vortrag auf den großen Unterschied zwischen Disziplin und Gehorsam hingewiesen. Für ihn ist Disziplin ein Zwang, der aus der Sache selbst entsteht, und Gehorsam ein Zwang durch andere Menschen. Nicht jeder mag vielleicht die Wörter so verwenden, aber die Unterscheidung der beiden Dinge halte ich für sehr wichtig. Ich hatte vorher darüber nie nachgedacht und fand seinen Hinweis außerordentlich nützlich.
Was Mathematik und Programmieren angeht, so würde ich mich als sehr penibel, oder eben diszipliniert, und als ebenso ungehorsam bezeichnen. In der Mathematik passiert es mir beispielsweise häufiger, dass ich auf zwei verschiedenen Wegen zwei sich widersprechende Lösungen finde. Dann muss ich herausfinden, woran das liegt. In wenigstens einer von beiden Lösungen muss ein Fehler liegen. Und wenn ich die Fehlersuche vermeiden will, muss ich eben versuchen, Fallstricke zu umgehen. Was das Programmieren angeht, so waren sicher meine Erfahrungen mit „Jugend forscht“ Schlüsselerlebnisse. Bei den Vorführungen funktionierte immer irgendwas in meinen Programmen überraschenderweise nicht und es war mir sehr peinlich. Deswegen musste ich mir mehr Sorgfalt beim Programmieren und Zurückhaltung bei neuen Funktionalitäten angewöhnen.
Wenn ich es recht bedenke, schließen sich Gehorsam und Disziplin fast aus. Wenn die Technik Lösung A erfordert (=Disziplin), der Chef erwartet aber Lösung B (=Gehorsam), dann muss ich mich entscheiden. Wahrscheinlich finde ich deswegen das Dasein als Freiberufler attraktiver als das eines Angestellten.
Die Idee, das Disziplin von einem Aufpasser kommen muss, der sie einem einhämmert, steckt wohl in vielen Menschen. Gerade was das Programmieren angeht, finde ich die Vorstellung hochgradig amüsant, dass meine Eltern, ein Lehrer oder sonstwer beim Programmieren hinter mir steht und Kommentare zu meinem Programm abgibt oder es benotet. Wenn das so gewesen wäre, hätte ich ganz sicher das Programmieren sehr schnell wieder aufgegeben. Nein, der Zwang zur Sorgfalt erwächst ganz allein aus der Sache: Wenn man falsch programmiert, stürzt das Programm ab, oder gibt falsche oder nicht reproduzierbare Ergebnisse aus. Da helfen keine Ausreden, kein Schimpfen, kein Einschmeicheln und kein Erpressen – wenn das Programm nicht tut, was es soll, muss man den Fehler finden und beseitigen. Ok, ganz so ideal ist die Computer-Welt nicht, man kann Fehler auch kaschieren, das machen leider auch viele Programmierer.
Manche Mathematikdidaktiker beschwören die Vorzüge von Computeralgebrasystemen und -geometrieprogrammen, mit denen man spielerisch ohne Lehrer Algebra bzw. Geometrie erkunden kann. Diese Programm vergeben keine Noten, haben kein Lehrziel, sind nur für einen Anwender da, sind sehr geduldig, verdrehen nicht die Augen, wenn man nachbohrt oder Ausnahmen von den Regeln aufspüren will, sind nicht eingeschnappt, wenn man mal was besser weiß, als sie. Sie sind also in mancher Hinsicht bessere Lehrer. Ob sie der Stein der Weisen für den Mathematikunterricht sind, kann ich nicht beurteilen, aber ich kann der Idee durchaus etwas abgewinnen.
- Du hast Mathematik mit Kunst verglichen, aber die meisten Menschen erleben Mathematik in der Schule als das Kontrastprogramm zur Kunsterziehung. Wie muss man sich Mathematik als Kunst vorstellen?
Wie gesagt, Schulmathematik ist eigentlich Rechnen, also der unkreative Teil. Kreativität braucht man dagegen, um Aufgaben zu lösen, zu denen noch keine Standardlösung bekannt ist, oder um Beweise zu führen, oder um elegante Definitionen zu finden. Mit einer eleganten Definition lassen sich Beweise und Lösungswege vereinfachen. Eine Definition kann aber nicht falsch oder richtig sein, mit einer Definition legt man ja erst fest, was als falsch und was als richtig gelten soll. Trotzdem gibt es elegante und unhandliche Definitionen.
Zum Beispiel gibt es die Fakultätsfunktion, ausgedrückt durch ein Ausrufezeichen. Der Ausdruck „n!“ wird als „n Fakultät“ gelesen. „n Fakultät“ soll das Produkt der natürlichen Zahlen von 1 bis n sein. Man braucht das in der Kombinatorik: Die Anzahl der Möglichkeiten n verschiedene Gegenstände in eine Reihe zu legen, die sogenannte Anzahl der Permutationen, ist genau „n!“
Jetzt kommt der Spezialfall: Ist es sinnvoll „0!“ zu definieren und wenn ja, welchen Wert soll es haben? Nach meiner verbalen Definition müsste 0! dem Produkt der natürlichen Zahlen von 1 bis 0 entsprechen. Aber was soll das sein? 0? Ich sehe zwei Herangehensweisen: Die abstrakte ist, dass ich feststelle, dass die Fakultät dem Gesetz (n+1)! = n!·(n+1) zunächst für alle n ab 1 genügt. Für n=0 wird das zu: (0+1)! = 0!·(0+1), oder vereinfacht: 1!=0! Wenn man möchte, dass das Gesetz für alle natürlichen Zahlen einschließlich 0 erfüllt ist, müsste man 0!=1 setzen. Die anwendungsorientierte Herangehensweise ist: Da n! die Anzahl der Permutationen sein soll, frage ich mich, wieviele Möglichkeiten es gibt, 0 Dinge in eine Reihe zu legen. Es gibt genau eine Möglichkeit!
Wenn man auf zwei verschiedenen Wegen zu diesem Ergebnis kommt, ist das doch ein guter Grund, die Definition der Fakultät um 0!=1 zu ergänzen. Um mathematisch exakte Beweise führen zu können, muss man die Definition auch mathematisch exakt machen und dann würde man definieren: 0!=1 und (n+1)! = n!·(n+1) für alle natürlichen Zahlen n. Diese Definition ist nun zum Führen von Beweisen hervorragend geeignet, leider sieht man nicht mehr, wie man darauf gekommen ist, 0! auf 1 zu setzen.
Noch ein ähnlich gelagertes Beispiel: Man kann natürliche Zahlen in Faktoren zerlegen, zum Beispiel 12=3·4 oder 12=2·6 oder 7=1·7. Wenn man das für ein paar Zahlen tut, dann sieht man, dass manche Zahlen viele Zerlegungen zulassen und andere nur Zerlegungen mit einem Faktor 1. Letztere Zahlen bezeichnet man (fast alle) als Primzahlen. Dann stellt man fest, dass sich alle natürliche Zahlen außer der 0 als Produkt ausschließlich von Primzahlen darstellen lassen, wobei manche Zahlen mehr als zwei Faktoren benötigen (Beispiel: 12=2·2·3) und Primzahlen selbst nur einen Faktor (Beispiel: 7=7). Nun kann man sich fragen, ob man die 1 als Primzahl zulassen will. Unter den Zahlen, die besonders sind, weil sie nur Zerlegungen mit einer 1 als Faktor zulassen, ist die 1 ja besonders herausgehoben, weil alle Faktoren 1 sind. Wenn die 1 nicht als prim definiert wird, dann wäre die Zerlegung einer natürlichen Zahl abgesehen von der Reihenfolge der Faktoren eindeutig. Also wenn 1 nicht als prim definiert wird, dann gibt es nur die Primfaktorzerlegung 12=2·2·3, wenn 1 auch als Primzahl zugelassen wird, dann wären auch erlaubt 12=1·2·2·3 und 12=1·1·1·2·2·3. Offensichtlich ist das Erweitern um den Faktor 1 nicht sonderlich spannend, deswegen definiert man das weg, und sagt, 1 soll keine Primzahl sein.
Jetzt wäre es schön, wenn wir universell formulieren könnten, dass sich jede positive ganze Zahl eindeutig als Produkt von Primzahlen schreiben lässt. Klar ist 12=2·2·3 und 6=2·3. Bei 7=7 müssen wir schon akzeptieren, dass ein Produkt auch mal nur einen Faktor haben kann. Was machen wir aber mit der 1? 1=1 können wir nicht als Primfaktorzerlegung akzeptieren, denn 1 soll keine Primzahl sein. Und doch können wir für 1 eine Primfaktorzerlegung angeben, wenn wir ein Produkt von 0 Faktoren akzeptieren. Da kommen wir aber mit der Produktschreibweise mit dem Multiplikationspunkt nicht weiter, stattdessen brauchen wir eine Funktion, sagen wir „product“, die eine beliebige (Multi-)Menge von Zahlen multipliziert. Wir könnten dann schreiben: 12 = product [2,2,3], 6 = product [2,3], 7 = product [7] und 1 = product [].
Ist das nun ein hilfloses Flicken oder kann man diese Definition irgendwie rechtfertigen? Ich will zwei Gründe anführen: Erstens ein allgemeines Rechengesetz für „product“, welches intuitiv einleuchtet: Wenn ich zwei Multimengen A und B habe, dann soll es egal sein, ob ich die Produkte von A und B miteinander multipliziere, oder ob ich erst die Mengen A und B vereinige und dann darüber das Produkt berechne. In Formeln heißt das Gesetz: product A · product B = product (A∪B). Die Formel beschreibt eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber es ist gerade Aufgabe von Mathematikern, solche Selbstverständlichkeiten herauszuarbeiten und in eine Form zu bringen, die zum Beispiel auch Computer verstehen. Wenn wir wollen, dass diese Selbstverständlichkeit universell gilt, dann müssen wir auch eine bestimmte Definition für product [] hinnehmen. In obigem Gesetz könnten wir einsetzen A=[5] und B=[] und wir erhalten: product [5] · product [] = product [5]. Das teilen wir auf beiden Seiten durch 5 und erhalten product [] = 1. Schlussfolgerung: Wenn sich product [] überhaupt ein sinnvoller Wert zuordnen lässt, dann 1. Wir können die Gleichheit (product [] = 1) aber in das Gesetz einsetzen und erhalten: product A · 1 = product A und das stimmt immer, weil 1 das neutrale Element der Multiplikation ist. D.h. die Festlegung product [] = 1 passt immer und ist die einzige, die immer passt. Das ist doch ein starkes Argument dafür, es tatsächlich so zu definieren. Man kann das ganze so zusammenfassen: Die Funktion product bildet das neutrale Element der Mengenvereinigung (nämlich die leere Menge) auf das neutrale Element der Multiplikation ab (die 1). Mathematiker würden product daher einen Homomorphismus nennen. Übrigens: Wenn man n Fakultät als das Produkt der ersten n natürlichen Zahlen ab 1 ansieht, dann wäre „0!“ das Produkt von null Zahlen, also 1. Das würde also genau zu der Definition passen, die wir uns schon auf andere Weise erarbeitet haben.
Der zweite Grund für die Zerlegung der 1 in ein leeres Produkt von Primfaktoren liegt in der Primfaktorzerlegung von positiven rationalen Zahlen. Da muss ich wieder ausholen: Statt 12=2·2·3 kann man auch schreiben 12=22·31·50·70·… Damit meine ich eine Darstellung, bei der jeder Primfaktor genau einmal geschrieben wird und der Exponent die Anzahl jedes Primfaktors angibt. Da die Primzahlen immer die gleichen sind, kann man die auch weglassen und sagen: Jede positive ganze Zahl lässt sich auf diese Weise eineindeutig einer Folge von natürlichen Zahlen zuordnen, in der nur endlich viele Zahlen verschieden von null sind. Beispiele: 12 ~ [2,1,0,0,…], 6 ~ [1,1,0,0,…], 7 ~ [0,0,0,1,0,…]. Wenn ich in den Folgen auch negative Folgenglieder (sprich Exponenten) zulasse, bekomme ich sogar eine eineindeutige Darstellung für alle positiven rationalen Zahlen. Beispiel: ¾ ~ [-2,1,0,0,…] weil ¾ = 2-2·31·50·70·… Wenn ich zwei rationale Zahlen multipliziere, dann addieren sich ihre Primzahlexponentenfolgen. Beispiel: 12· ¾ = 9 und analog [2,1,0,0,…] + [-2,1,0,0,…] = [0,2,0,0,…]. Es wäre doch jetzt wirklich sehr willkürlich, wollte man die 1 hier herausnehmen! Es gilt beispielsweise 3· 1/3 = 1 und [0,1,0,0,…] + [0,-1,0,0,…] = [0,0,0,0,…] und [0,0,0,0,…] steht genau für das leere Produkt.
Der langen Beispiele kurzer Sinn: Im Schulunterricht bekommt man einfach Definitionen vorgesetzt, aber warum die so sind, erfährt man nicht. Und selbst wenn man es gesagt bekommt, bedeutet es einem doch nicht viel. Was die Definitionen bedeuten und warum sie so und nicht anders sind, kann man meiner Meinung nach nur erfahren, wenn man ein wenig damit herumspielt und einmal schaut, wie die Mathematik aussähe, wenn man Dinge mal anders als üblich definiert. Dieser Prozess ist sehr kreativ und eine Sache, die Mathematik spannend macht. Im Übrigen findet man auf diese Weise auch alteingesessene Definitionen, die recht verunglückt erscheinen.
- Oft heißt es ja, „aber wenigstens die Sozialisation ist besonders und besonders wichtig an der Schule“. Wie hast Du das erlebt, wie siehst Du das?
Ich habe beizeiten gelernt, dass ich meine mathematischen Ambitionen lieber für mich behalte und erst einmal die Lage sondiere, andernfalls konnte ich recht merkwürdiges Verhalten bei meinen Altersgenossen provozieren. Manche Mitschüler haben mit meinen Fähigkeiten gegenüber anderen geprahlt – die behaupteten Fähigkeiten musste aber ich unter Beweis stellen und nicht die Angeber! Da kamen so Testfragen, dass ich mal diese oder jene Aufgabe im Kopf ausrechnen solle. Dazu hatte ich überhaupt keine Lust, zumal ich davon ausging, dass der Testfrager die Lösung ohnehin nicht überprüfen kann. Wenn mich jemand etwas aus echtem Interesse gefragt hätte, wäre ich gerne mit ihm ins Gespräch gekommen, aber diese Testfragen haben mich genervt.
In ähnlicher Weise verfolgt es mich bis heute. Es gibt immer wieder Leute, die meinen, sie müssten mir beweisen, dass ich auch als Doktor nicht alles weiß. Das ist verschwendete Mühe, denn das weiß ich auch so!
Zum Thema Sozialisation noch eine Anekdote: Jedes Jahr in der Unterstufe der POS gab es einen Besuch von der Klassenlehrerin und der Hortnerin bei uns zu Hause zusammen mit meinen Eltern und mir. Bei dieser Gelegenheit hat meine Klassenlehrerin einmal versucht, mir einen guten Schulfreund abspenstig zu machen. Ich hatte keine Veranlassung, ihn als Freund aufzugeben, er war ein guter Kumpel, und alles, was man ihm hätte vorwerfen können war, dass er nicht die besten Schulnoten hatte. Meine Klassenlehrerin meinte jedenfalls, ich solle mich doch an einen bestimmten anderen halten, einen, der immer in Betragen eine eins hatte. Mein Bruder kommentierte das später damit, dass so eine Aktion völlig unpädagogisch wäre und Lehrer so etwas überhaupt nicht sagen dürften.
Und noch eine Anekdote aus einem mathematischen Spezialistenlager in Buntenbock an dem ich kurz nach der Wende teilnahm: Eine der Tutorinnen fragte uns Teilnehmer, ob wir eine bestimmte Sache aus dem Mathematikunterricht schon wüssten und ein Teilnehmer antwortete: „das dürfen wir noch nicht wissen“. Da mussten alle feixen. Jeder Mathematikbegeisterte kannte die typische Reaktion von Lehrern auf Fragen von Schülern, denen es im Mathematikunterricht zu langsam vorwärts ging – Schüler, die beispielsweise schon wussten, dass es gebrochene Zahlen gibt und die deswegen dem Lehrer widersprochen haben, wenn er behauptete, dass man 3 nicht durch 2 teilen könne. Damals hielt ich es für ein notwendiges Übel, dass der Mathematikunterricht nicht immer so schnell vorangeht, wie es mich interessiert hätte. Heute denke ich mir: Was für eine Verschwendung von Zeit und Motivation nur um dem System Schule zu genügen!
Noch eine allerletzte Anekdote, die vielleicht zum Thema Sozialisation passt: Einmal stellte jemand am Abendbrotstisch in einem Ferienlager eine berühmte Scherzfrage, nur leider mit falschen Zahlen: „Was ist schwerer: 1kg Eisen oder 100g Federn?“ Ich tippte überzeugt auf das Eisen und der Fragesteller glaubte, mich erfolgreich in die Falle gelockt zu haben. Leider glaubten fast alle am Tisch einschließlich dem erwachsenen Betreuer, dass 1kg = 100g seien. Ich wusste nicht, wo man in dem Ferienlager ein Tafelwerk auftreiben kann, aber ich bin bis heute davon überzeugt, dass 1kg = 1000g. 🙂 Meine Erkenntnis damals war, dass man sich weder auf Mehrheiten noch auf Autoritäten verlassen kann und das begleitet mich bis heute.
- Welche Rolle spielten und spielen für dich Schülerwettbewerbe?
Da ich mich für Mathematik interessiert habe, habe ich auch frühzeitig an der Mathematik-Olympia teilgenommen. Interessanterweise hatten einige der anderen Teilnehmer als Motivation für die Teilnahme, dass man am Tag der Klausur schulfrei bekam. Als ich das erste Mal teilgenommen habe, hatte ich einen Platz um den dreißigsten herum. Den damals erstplatzierten habe ich später in der Mathematikarbeitsgemeinschaft der Station Junger Techniker und Naturforscher wiedergetroffen. Nach dieser Platzierung war ich umso überraschter, als ich im Jahr darauf den ersten Platz belegt hatte. Bei dem Gedanken, dass ich die höchste Punktzahl der ganzen Stadt in meiner Klassenstufe abgeliefert hatte, wurde mir schon etwas schwindlig. Und als ich im Jahr darauf wieder den ersten Platz belegt hatte, hatte ich mich damit schon fast zur ständigen Teilnahme und zum ersten Platz verpflichtet. Vom ersten Platz aus kann man sich ja nicht mehr steigern, nur noch absteigen. Es gab in den höheren Klassenstufen noch weitere Runden, die Bezirksrunde (was ab 1991 die Landesrunde wurde), die Bundesrunde und die Internationale Mathematik-Olympia. Ich habe es immerhin bis zur Bundesrunde geschafft.
Besonders stolz bin ich darauf, auch einmal einen Preis für eine besonders elegante Lösung bei einer Bundesrunde bekommen zu haben. Leider kann ich nur vermuten, welche meiner Lösungen das damals war.
An manchen Stellen habe ich mich sehr über die „Informationspolitik“ meiner Schulen geärgert. Mal habe ich von einer Preisverleihung erst aus der Zeitung erfahren und ich habe mich gefragt, wer da eigentlich eingeladen ist, wenn nicht einmal der erstplatzierte? Also entweder war das mit dem ersten Platz ein Missverständnis oder irgendjemand muss bei der Einladung zur Preisverleihung was verschlampt haben. Dann wieder habe ich erst auf Nachfrage erfahren, dass ich eine Bezirksrunde verpasst habe, zu der ich mich qualifiziert hatte. Und die Krönung war, dass meine letzte Teilnahme an einer Mathematikolympia-Bundesrunde (in Freiberg) mit der Mathe-Abiturprüfung zusammenfiel. Unser Mathe-Lehrer hatte auf meine Nachfrage diesen Fall nicht für möglich gehalten und keine Vorbereitungen getroffen. Ich hatte Glück, dass der Lehrer eines Wettbewerbers aus Weißenfels Aufgaben für eine alternative Klausur rechtzeitig erstellte und genehmigen ließ.
Meine Erfolge bei der Mathematikolympia haben mir auf jeden Fall mehr Selbstvertrauen geschenkt. Es diskutiert sich doch mit Mathematiklehrern ganz anders, wenn ich und der Lehrer von meinen MO-Erfolgen wissen. Klar, eigentlich sollten Argumente überzeugen und nicht Etiketten, aber wir wissen ja, wie es in der Welt im Allgemeinen und in der Schule im Besonderen zugeht. Auch meiner Aufnahmeprüfung zum Georg-Cantor-Gymnasium, konnte ich recht gelassen entgegen sehen, denn wenn sie einen Mathematikolympia-Gewinner nicht hätten aufnehmen wollen, wen denn dann? Nachdem die Preise bei der Olympia beinahe zur Routine wurden, rückte für mich aber immer mehr in den Vordergrund, Gleichgesinnte kennenzulernen. Nach meiner Schulzeit wurde ich von den Veranstaltern gefragt, ob ich bei der Korrektur der Aufgaben helfen könnte. Das mache ich bis heute und habe auf diese Weise Gelegenheit, regelmäßig alte Bekannte wiederzutreffen.
Außer bei der Mathematikolympia habe ich noch vier Mal bei „Jugend forscht“ im Gebiet Mathematik/Informatik teilgenommen. An „Jugend forscht“ fand ich besonders schön, dass ich mir die Aufgaben selbst aussuchen konnte. So hatte ich auf der einen Seite die Mathematikolympia mit relativ wenig Vorbereitungsaufwand, dafür mit gestellten Aufgaben und auf der anderen Seite „Jugend forscht“ als Freistil-Veranstaltung, dafür mit enormem Zeitaufwand. Manchmal hatte ich noch überlegt, an der Informatik-Olympia teilzunehmen, aber das wurde mir zu viel. Als positiver Effekt meiner „Jugend forscht“-Teilnahme stellte sich heraus, dass ich nun einen guten Grund hatte, ganz offiziell ungezählte Stunden am Computer zu verbringen. Solange ich mich einfach nur so mit dem Computer beschäftigte und programmierte, hatten meine Eltern große Sorge, dass ich ein Fachidiot werden würde. Aber mit der Anmeldung zu „Jugend forscht“, der Ausarbeitung einer schriftlichen Arbeit, die mein Vater Korrekturlesen durfte, dem Kreieren eines Posters und der Organisation der Logistik, um die Computertechnik zum Veranstaltungsort zu bringen, da war es auf einmal etwas ernstes. Wenn der Abgabetermin für die Arbeit und der Zeitpunkt der Präsentation näher rückten, konnten mir meine Eltern schlecht ins Gewissen reden, dass ich schon wieder so viel am Computer sitzen würde.
- Aber bestehen diese Wettbewerbe nicht auch wieder aus Leistungsdruck und dem ewigen Vergleichen mit anderen?
Als primäres Ziel des Känguru-Wettbewerbes wird angegeben, die Freude an mathematischem Denken und Arbeiten zu wecken und zu unterstützen. Meiner Meinung nach sollte das Ziel von Schülerwettbewerben überhaupt nur sein, Interesse zu fördern, aber nicht, den „besten“ Schüler in einer Disziplin zu ermitteln. Was will man mit diesem Wissen auch anfangen? Ein Wettbewerb kann im Prinzip dazu beitragen, die Beschäftigung mit dem Fach zu fördern: Jemanden anders zu übertrumpfen, kann eine hohe Motivation sein, für eine Sache zu trainieren. Das funktioniert aber nur, wenn die Teilnehmer erwarten, durch Training ihre Position in der Rangliste verbessern zu können. Da liegt in der Regel der Hund begraben: In aller Regel hat niemand Lust ständiger Zweiter zu sein und deswegen nehmen viele Mathematikinteressierte einfach nicht mehr an der Matheolympia teil, wenn sie jedes Jahr wieder gegen die gleichen Mitstreiter antreten und annähernd die gleichen Plätze belegen. Viele verabschieden sich dann nicht nur von der Olympia, sondern von der Mathematik insgesamt.
Ich nahm beispielsweise an, dass ich zum Mathematikstudium viele alte Bekannte von der Mathematikolympia treffen würde. Das Gegenteil war der Fall: Ins Mathematikstudium hatten sich anscheinend nur die Bestplatzierten der Mathematikolympia verirrt und Leute, die ich nie bei irgendeinem Wettbewerb gesehen habe.
Zweiter wichtiger Punkt ist, dass die Teilnahme an den Wettbewerben im Prinzip freiwillig ist. Wer sich nicht vergleichen will, muss nicht hingehen. Das ist schon mal ein großer Unterschied zum Notenwettkampf in der Schule. Allerdings vereinnahmen Schulen gerne die Wettbewerbe. Natürlich werden die Preisträger bei der Siegerehrung immer mit der Schule genannt, die Schulen schmücken ihre Korridore, Wandzeitungen und Chroniken mit den Erfolgen ihrer Schüler, auch wenn die Schule an dem Erfolg gar keinen Anteil hatte. Und wenn doch, ist es auch nicht unbedingt besser. Bei „Jugend forscht“ waren bei einigen Projekten die Lehrer der Schüler dabei. Dann ist es mir passiert, wenn ich mich mit den Schülern über ihr Projekt unterhielt und in die Details ging, dass es nicht lange dauerte, bis sich der Lehrer einschaltete, und das Gespräch übernahm. Ich glaube, dass manche „Jugend forscht“-Projekte keine Schüler-, sondern Lehrerprojekte sind und das verfehlt doch den Sinn des Wettbewerbs.
Weiter habe ich es erlebt, dass Schulen ihre Schüler dazu anhalten, ihre Arbeiten aus Schulprojektwochen bei „Jugend forscht“ anzumelden. In meiner eigenen Schulzeit noch wurde eine Kooperation mit der Uni geschlossen, wo wir Schüler zu irgendwelchen Physikexperimenten an die Uni gehen sollten. Als Motivation wurde uns mitgegeben, dass man daraus auch „Jugend forscht“-Projekte machen könnte. Das empfand ich als äußerst lästig, denn Ideen für eigene Projekte hatte ich eigentlich genug. Da die Leute an der Uni nicht viel mit uns anzufangen wussten, und wir nicht viel mit ihren Experimenten, ist das alles nach einigen Wochen sanft entschlummert.
- Ist dein Werdegang für Mathematiker repräsentativ?
Ich habe letztens einige früher erfolgreiche Mathematik-Olympia-Teilnehmer befragt, wie sie ihr Interesse für Mathematik entdeckt haben, wie sie ihre mathematischen Fähigkeiten gefördert haben, ob die Schule dabei eher förderlich, hinderlich oder egal war usw. Meine Fragen haben sich erst im Verlaufe der Gespräche entwickelt. Ich habe keinen Ankreuzfragebogen ausgereicht und kann daher keine Statistik anbieten, ich habe auch nur eine Handvoll Leute befragt.
Nachdem ich hier ausführlich meine ernüchternden Erfahrungen mit Schulmathematik ausgebreitet habe, nahm ich an, dass es anderen Mathematikbegeisterten ähnlich geht. Das ist anscheinend nicht so, die Lebensläufe sind sehr verschieden. Ich habe nur einen angetroffen, der wie ich früh sein mathematisches Interesse entdeckt hat und überwiegend selbständig aus Büchern und mit eigenen Projekten gelernt hat, und der Schule entbehrlich fand. Die anderen sind durch Erfolge bei der Mathematikolympia auf ihr Potenzial aufmerksam geworden oder wurden von Lehrern entdeckt. Manchen wurde eine mathematische Begabung schon in der Grundschule bewusst, andere sind erst in höheren Klassen darauf gekommen und sind erst zur siebenten oder neunten Klasse in Spezialgymnasien gewechselt. Manche geben an, dass sie durch ihre Lehrer an den Spezialgymnasien gefördert wurden oder durch die inzwischen vielfältigen Angebote zur mathematischen Schülerförderung beispielsweise das Schnupperstudium an der Uni, Spezialistenlager und Landesseminare vom eLeMeNTe-Verein in Sachsen-Anhalt, oder „Jugend trainiert Mathematik“. Manchmal sah die Förderung durch Lehrer auch so aus, dass sie mathematische Überflieger vom regulären Mathematikunterricht freigestellt haben. Meiner Meinung nach nicht der schlechteste Ansatz. 🙂 Einer hat angegeben, wegen seiner Fähigkeiten gemobbt worden zu sein, aber er sagt, es hätte ihn nur gestärkt. Manche Leute habe ich auch direkt zur Schulpflicht befragt. Die haben eigentlich alle befürwortet und es haben eigentlich alle zu Protokoll gegeben, dass sie in der Schule keine Probleme beim fachlichen Mitkommen hatten und manche sagen auch ausdrücklich, dass sie gerne zur Schule gegangen sind. D.h. diejenigen betrifft die Schulpflicht eigentlich auch nicht. Einige Anekdoten über ungerechte Behandlung durch Lehrer, die es nicht ertragen können, wenn Schüler einfach mal besser Bescheid wissen als sie, habe ich doch zu hören bekommen. Manche Mathematikfreunde habe ich auch danach befragt, auf welche Schulfächer sie hätten verzichten können. Da habe ich eine bunte Mischung von Fächern gehört, versehen mit der Bemerkung, dass die Fächer aber eigentlich doch wichtig seien, allerdings, nein, viel wisse man nicht mehr aus diesen Fächern, aber man hat schon mal was davon gehört und weiß schneller, wo man anfangen muss, falls man es doch mal brauchen sollte.
Danke fuer dieses absolut interessante und Einblick in die Welt der echten Mathematik bietende Interview!
Zum Thema „Fakultät von null“ habe ich jetzt auch ein Video gefunden:
Wirklich interessanter Beitrag! Was mich immer wieder fasziniert ist, wie breit der Begriff Kreativität ausgelegt werden kann. Ich sage schon seit langer, dass es Kreativität erfordert elegante Lösungen und Definition in der Physik, Mathematik wie auch Informatik zu entwickeln.
Ja, es gibt in allem so viele Möglichkeiten – es braucht nur die Offenheit.