Warum „ich kann meine Kinder nicht freilernen lassen“ Quatsch ist

Heute möchte ich mich mal einer Frage widmen, die so oder ähnlich immer wieder auftaucht: was ist eigentlich Freilernen?

Oder die in Aussagen impliziert ist, gerne angesichts der derzeitigen gesetzlichen Lage in Deutschland zum Thema Schulpflicht:
„Ich würde ja gerne mit meinen Kindern freilernen/meine Kinder freilernen lassen, aber es geht ja nicht !“ (zu „es geht nicht“ demnächst mehr ;-))

Meine Ansicht dazu ist klar.

Freilernen ist eine Entscheidung.
Freilernen ist eine Philosophie.
Freilernen findet im Kopf statt. In Deinem.
Denn Dein Kind kann das sowieso, von Geburt an.
Wenn Du es läßt.
Alles andere sind eigentlich nur „Nebenprodukte“.
(Denen durch die unerquickliche gesetzliche Lage teilweise zuviel Relevanz zukommt)

Freilernen bedeutet, den Menschen sein und werden zu lassen, was er ist, was aus ihm selbst kommt.
Das klingt so einfach und ist doch erstmal so kompliziert, aus dem erziehenden Hintergrund, aus dem wir meist kommen.

Freilernen ist, zu verstehen, dass wir immer lernen. Von Geburt an. Wir sind dazu gemacht. Der Mensch ist eine auf Weiterentwicklung ausgerichtete Spezies.
Wir können nicht nicht lernen.
Freilernen ist, zu akzeptieren, dass Lernen und Wissen und Bildung für mein Kind oder jeden anderen Menschen anders aussehen können als für mich.
Freilernen ist, dem Lernenden seine Herangehensweise an Themen zu lassen.
Freilernen ist, nichts „beibringen“ zu wollen.
Freilernen ist, ohne „pädagogischen Anspruch“ und ohne „aber es wäre doch besser…“ an Dinge heranzugehen.
Freilernen ist frei von Zielen der Eltern oder anderer Personen außer dem Freilernenden selbst.
Freilernen ist, nicht zu glauben, ich wisse, was „das Beste“ für Dich ist.
Freilernen ist nicht über den Anderen zu bestimmen.
Freilernen ist manchmal loslassen.
Freilernen lässt Dich werden, wer und was du bist.
Freilernen ist nicht immer einfach oder cool oder fancy.
Freilernen ist, auf Sätze wie „das sollte das Kind aber schon können/irgendwann lernen“ zu verzichten (vor allem im Kopf ;-)).
Freilernen ist, nicht zu beurteilen und zu bewerten.
Freilernen ist Begleiten.
Freilernen ist nicht Unterrichten, nicht Didaktik.
Freilernen ist Vertrauen.
Freilernen heisst nicht, dass Du immer einen tiefenentspannten Umgang mit Deinem Kind haben wirst.
Freilernen ist ohne „um zu“.
Freilernen ist nicht Wissensvermittlung.
Freilernen beschränkt sich nicht auf Kinder oder junge Menschen.
Freilernen heisst, dass Dinge oft ganz anders kommen, als wir es vermuten.
Freilernen ist, zu verstehen, dass jeder sich alles Wissen innerhalb kurzer Zeit selbst aneignen kann, wenn er/sie das möchte und es auf seine/ihre Art tun darf. ALLES !
Freilernen ist nicht beeinflussen zu wollen, was oder wie ein junger Mensch lernt, macht oder denkt. Heute und in Zukunft.
Freilernen ist Ausprobieren.
Freilernen ist eine Entscheidung.

Freilernen findet im Alltag statt und überall. Es ist losgelöst von Schulfächern. Ja – es kann durchaus passieren, dass das Kind dabei „unterwegs“ Rechnen oder Lesen lernt oder sich mit chemischen Formeln beschäftigt – dies jedoch nicht als Selbstzweck, wie wir es oft aus der Schule kennen.

Freilernen bedeutet, sich freizumachen von dem Glauben an Abschlüsse und Co.
Freilernen bedeutet, vertrauen zu finden, dass der junge Mensch seinen Weg gehen wird.

Freilernen bedeutet deswegen vor allem auch Arbeit an uns selbst als Eltern – sich lösen von all der erziehungsverursachten Angst.
Freilernen bedeutet Abschied nehmen von Erziehung. Kompromisslos.
Freilernen bedeutet, in Kontakt zu Ängsten und Gefühlen zu gehen. Unseren eigenen und denen von Anderen.
Freilernen bedeutet, dem jungen Menschen nicht unsere Vorstellungen als ewig richtig und das Einzige mitgeben zu wollen.
Freilernen bedeutet Abschied zu nehmen von der Vorstellung, wir könnten – oder sollten/müssten gar – unsere Kinder auf irgendeine Zukunft vorbereiten.

Das ist alles gleichsam erlösend wie beängstigend. Es ist ein Weg und ein Prozess.
Und fast alles davon findet im Innen statt, nicht im Außen.
Vorrangig in unserem; junge Menschen sind da nämlich von Geburt an, wenn es ihnen nicht abtrainiert wird 😉

Der junge Mensch entscheidet dabei, wie und wo und was er lernt. Deswegen kann Freilernen natürlich auch in einer Schule stattfinden – wenn der junge Mensch sich dafür entscheidet !

Freilernen hat viel mit Freiheit zu tun. Und weniger mit den äußeren Umständen.
Im Bildungskongress habe ich es in einem Interview das Beispiel Sophie Scholl dazu gebracht. Bitte nicht falsch verstehen – ich bin sehr froh, in einem Land zu leben, in dem mensch heute üblicherweise nicht mehr für seine Überzeugung und für das Eintreten für Freiheit und gegen Unrecht von Staats wegen umgebracht wird und ich meine auch nicht, dass der offene Widerstand zwingend und zu jeder Zeit und für jeden das Richtige sein muss.
Sie war ein starker Mensch, ja. Man konnte sie beschimpfen, inhaftieren, sogar ermorden, aber es gelang nicht, sie zu brechen. Unabhängig von den äußeren Umständen, noch auf ihrem Weg zur Hinrichtung, war sie klar und für jeden sicht- und spürbar frei. Niemand hätte das bezweifelt. Sie strahlte das aus, es war ihre Haltung, ihr Leben. Sie war frei, sie war Freiheit, auch über ihren Tod hinaus.

Schule oder nicht Schule ist daher bei Freilernen nur eine Randerscheinung.
Eine wichtige zwar – wer nicht zur Schule möchte oder wem sie nicht gut tut, der sollte nicht gehen müssen.
Unsere Aufgabe als Eltern ist es, hier mit unseren Kindern Wege zu finden und sie zu unterstützen und zu begleiten.
Und wieder kann es nicht angehen und ist absolut unpassend, dass ein demokratischer Staat vor lauter Angst an etwas wie dem Schulzwang festhält.
Bildungsfreiheit bedeutet, selbst auswählen zu können, wie ich mich bilde.

Aber vor allem ist Freilernen halt eben das: eine Haltung, eine Entscheidung. In mir.
Wenn ich die habe – und wenn nicht, auch – ist es egal, in welchem Land dieser Erde ich mich befinde. Und dann gibt es kein Warten auf die rosa Wolke der Bildungsfreiheit, die irgendwer schon irgendwie umsetzen wird. Freilernen findet hier und jetzt statt. In Dir.

Und durch diese Haltung machst Du den Weg frei für Veränderung. Denn wenn Du sagst, „das geht nicht“, „Schule muß ja sein“, „ich kann ja nicht“, „wir können hier nicht weg“, dann ist die Tür von vorneherein zu, der Weg vorgegeben auf das Ziel, dass da lautet „es geht nicht“. Aber wenn Du offen bist, die Entscheidung triffst, frei sein, frei lernen, frei leben zu wollen, dann werden sich auch Wege finden.

(Das Außen und die Bildungsfreiheit werden dem folgen. Vielleicht nicht gleich morgen, aber irgendwann.)

Wenn Du auf Deinem Weg Unterstützung möchtest – ich bin für Dich da.

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10 Kommentare, sei der nächste!

  1. Liebe Lena!

    Sehr spannend, was du schreibst, und sehr klärend. Vor allem das Thema „Haltung“ und „Unerzogenheit“. Je nachdem, wie wir selbst aufgewachsen und was für Persönlichkeiten wir sind, haben wir diese Haltung schon kultiviert, oder wir spüren, dass sie sich innerlich regt und wieder gesehen werden will.
    Wenn Pipi Langstrumpf nicht bloß unerreichbares Ideal, sondern Vorbild ist, und wenn das Leben von Menschen wie Sophie Scholl uns tatsächlich auch an unsere eigene innere Freiheit erinnert, dann dürfen und müssen wir die Kraft und das Selbstbewusstsein unserer Kinder anerkennen und uns selbst mit ihnen wieder neu erleben lernen.
    Gerade beschäftige ich mich mit Bertrand Stern, der mir den Widerspruch zwischen Wohlerzogenheit und menschlicher Würde klarmacht. – WENN Wohlerzogenheit heißt, dass ich meine Fähigkeit, nein zu sagen, verloren habe und meine inneren, wahrhaftigen Impulse zugunsten eines blinden und tauben und auch sonst völlig unsensiblen Gehorsams ignoriere oder gar abgespalten habe.
    Diese „Kompetenz“ will ich meinem Kind nicht angedeihen lassen!

    Danke für deine Worte und deinen Weg!
    Herzliche Grüße aus Österreich!
    Gabi

  2. Liebe Lena,
    wundervoll dein Artikel…
    Wow! Deine Erklärung ist so umfangreich und verständlich. Hat mir total gut gefallen. Ich denke, deine Worte werden einige inspirieren und vielen Mut machen. So wie auch mir. Danke dafür.
    Ich kenne dich und deine Arbeit/deinen Blog erst seit kurzem und bin sehr froh, dass es dich/euch gibt. Zu wissen, dass es Menschen gibt, die meine Meinung über Lernen teilen und da auch schon viel weiter sind darin, es zu leben, bestärkt mich ungemein auf meinem Weg zu bleiben – auch wenn es manchmal schwer ist ( z.b. In der Auseinandersetzung mit dem Klassenlehrer meiner Tochter an der Waldorfschule, der Wahlschule meiner 10-jährigen
    Tochter).
    Demnächst schreibe ich selbst einen Artikel zum Thema freies Lernen, alternative Schulformen im Zusammenhang mit Hochsensibilität bei Kindern.
    Dieser Artikel erscheint dann auf der Webseite von Sylvia Harke bzw der Webseite ihrer hsp-academy. Ebenso setzte ich ihn natürlich auf meinen eigenen Blog. Im Artikel selbst würde ich super gerne auf deinen Blog und deinen Artikel verweisen. Ich denke da hast du nichts dagegen, oder?!
    Ich grüße dich ganz lieb aus Radolfzell am wunderschönen Bodensee
    Alexandra

    1. Liebe Alexandra,
      hab vielen Dank für Deine liebe Rückmeldung !
      Auf Deinen Artikel bin ich sehr gespannt! (Im unerzogen Magazin wird es in der nächsten Ausgabe etwas zu alternativen Schulformen von mir geben.) Das Thema Hochsensibilität ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, finde ich. Gerade für die Hochsensiblen (/HSK) sind die erzwungenen Gruppen ja oft eine Zumutung. Dies haben wir selbst in unserem Kindergartenversuch erfahren und inzwischen finde ich es absolut nicht mehr verwunderlich, sondern logisch.
      Und natürlich darfst Du gerne auf meinen Blog/Artikel verweisen 😉
      Ganz liebe Grüße zurück nach Radolfzell (meine Großeltern haben am Bodensee gelebt, ich fühle mich diesem wunderbaren Fleck Erde nach wie vor sehr verbunden)
      Lena

  3. Sowohl der Kongress, als auch deine Artikel sind für mich nix Neues und wir hier in Radolfzell am Bodensee grüßen vom Rande aus. Was ich bei allem absolut sehr vermisse, was für mich absolut fehlt, sind die pädagogischen Impulse von Dr. Emmi Pikler. Ich halte es für absolut wesentlich, dass Eltern schon ganz früh nach der Geburt erfahren, wie sie mit ihren Kindern auf eine Art und Weise in Beziehung gehen können, welche deren eigenständige Entwicklung von Geburt an zulässt und das natürliche „Freilernen“ von Anfang an erhält. Wenn man schon in den ersten Monaten erfährt wie eigentlich alles beim Kinde sich von selbst entwickelt und erlernt wird, dann bekommt man auch das Vertrauen, dass es so immer weiter geht, dass dies quasi ein natürlicher Prozess unseres Lebensorganismus ist. Ebenso fehlen für mich bei eurer Arbeit die Impulse von Rebeka und Mauricio Wild. Freundliche Grüße Ela

    1. Liebe Ela,
      das ist doch super, dass das alles für Dich keine neuen Themen sind!
      Persönlich bin ich ja, wenn überhaupt, der Antipädagogik zugetan. Bei Pikler habe ich einige Kritikpunkte, wenn ich auch durchaus nützliche Ansätze sehe. Deiner Ansicht über die ersten Monate etc stimme ich gleichwohl zu, daher ja auch die diesbezüglichen Interviews im Kongress zB mit Julia Dibbern. Meine sonstige Arbeit zu dem Thema findest Du auf http://www.familienleicht.de und da wird auch der nächste Kongress ansetzen.
      Der Arbeit von Rebeca und Mauricio Wild sind wir schon über Aktive Schule sehr zugetan. Leider ist Rebeca ja vor ein paar Monaten gestorben; ich hätte sie gern beim nächsten Bildungskongress dabeigehabt.
      Im nächsten Unerzogen magazin wird es einen Artikel von mir zu den verschiedenen Alternativ-/Reformschulen geben, allerdings eher basic.
      Herzlichen Gruss
      Lena

      1. Tja wenn du mal den Begriff Pädagogik in seiner ursprünglichen griechischen Version betrachtest, dann frage ich mich, was du mit dem Wort Antipädagogik ausdrücken willst? Deine Kinder begleitest du doch immer oder? So hoffe ich es wenigstens für sie. Und Pädagogik heißt nichts anderes wie „begleiten“. Das die Gesellschaft daraus Erziehung gemacht hat ist was anderes.
        Rebekka hat meiner Meinung nach mehr zu bieten und zu sagen gehabt als nur über ihr schulisches Projekt definiert zu werden. Und es gibt genügend Menschen, welche ihre Gedanken weiter geben können. Herzlich Ela

        1. Liebe Ela,
          ich verstehe Antipädagogik im Sinne des gleichnamigen Werks und der Arbeit von Ekkehard von Braunmühl.
          Ich stehe für Begleitung von Kindern, nicht dafür, dass sie zwingend Führung bedürfen (aka einer weiss es besser).
          Sh. Artikel und Kongress.
          Ich beherrsche jedoch die griechische Sprache nicht und kann über die Feinheiten im tatsächlichen sprachlichen Ursprung nicht viel sagen.‘
          Ja klar, das war kein direkter Zusammenhang. Ich habe alle Bücher der beiden und kenne einige, die sie persönlich kannten und nach ihr arbeiten, ja. Wobei sie glaube ich dankenswerter Weise den Begriff „nach…arbeiten“ ablehnten. Ja, für den nächsten Kongress durchaus vorstellbar, Richtung freies Lernen in strukturellerem Umfeld.
          LG
          Lena

    1. Ja, Karen, den Eindruck habe ich auch.
      Das betrifft zum einen die eigene Ohnmacht („aber ich kann doch nicht, weil das böse Gesetz..“), aber auch die Gründe für einen schulfreien Ansatz.

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